Schäfers Qualen
können. Bei den Indizien, die vorlagen, hätte er sie unter polizeilichen Aspekten sogar vornehmen müssen. Also, worauf wartete er?
Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und schluckte eine Schmerztablette. Sobald er irgendeinem der Kollegen seine Informationen anvertraute, würden sie den Täter festnehmen. Sogar Bergmann, wollte er nicht seine Stelle riskieren, würde nicht umhinkönnen, den Staatsanwalt zu informieren. Doch Schäfer wollte nicht nur den Fall abschließen. Er wollte auch wissen, was es mit Sonnbichler auf sich hatte. Er wollte, dass er gestand.
Er ging zur Tür und öffnete dem Kellner, der das Frühstückstablett auf dem Balkontisch abstellte und das Zimmer mit einem großzügigen Trinkgeld verließ. Schäfer hatte schon die erste Semmel aufgeschnitten, als er noch einmal aufstand und ins Zimmer ging, um seinen Laptop zu holen. Er wollte wissen, wann der nächste Zug nach Innsbruck ging. Um sich selbst Druck zu machen und nicht nur zu warten, bis sich die Dinge von selbst erledigten. Er entschied sich, den Zug um halb zwölf zu nehmen, rief bei der Rezeption an und bestellte ein Taxi für elf Uhr fünfzehn. Blieb ihm noch eine gute halbe Stunde, um sein Frühstück zu beenden und sich fertig zu machen.
Als er sein Holster anlegte und in sein Jackett schlüpfte, läutete das Zimmertelefon. Das Taxi wäre da. Er packte seinen Computer in eine Papiertüte, überlegte kurz, ob er irgendwas vergessen hatte, und verließ das Zimmer. Der Taxifahrer war derselbe, der ihn zu Hinterholzer gebracht hatte. Sie wechselten ein paar oberflächliche Sätze über den Fall und erreichten den Bahnhof zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges. Schäfer kaufte sich ein Ticket und ging in die Trafik, um sich Zigaretten und ein paar Tageszeitungen zu besorgen. Auf dem Bahnsteig überflog er die Schlagzeilen. Das Feuer und die Grabungsarbeiten hatten den Fall bei allen österreichischen Zeitungen wieder auf die Titelseite gebracht. Schäfer zündete sich eine Zigarette an und wartete die Ankunft des Zuges ab, der mit zehn Minuten Verspätung eintraf. Im Waggon der ersten Klasse saß ein japanisches Touristenpärchen, zwei Männer in Anzügen und eine ältere Frau, die mit sechs Vuitton-Taschen und -Koffern reiste. Er suchte sich einen Platz in größtmöglicher Entfernung zu den anderen Passagieren, stellte seine Tasche ab und setzte sich. Bald darauf bemerkte er, wie sich die Frau, die zwei Reihen weiter saß, mehrmals vorwurfsvoll räusperte. Er sah auf seine rechte Hand, deren Finger selbstständig auf die ausgeklappte Abstellfläche trommelten, und zog sie schnell zurück. Die Zeitungen, die er unkonzentriert durchblätterte, verschafften ihm auch keine Ablenkung. Das Logbuch. Er nahm seinen Laptop aus der Tasche, stellte ihn auf den Ausklapptisch und fuhr ihn hoch.
Das Dokument, das Bergmann ihm geschickt hatte, bestand aus nur zwei Seiten. Kaum eines der Wörter war ausgeschrieben, in erster Linie fanden sich Daten, Orte und Initialen: W. K., H. G., S. S., S. K., J. F., M. K., R. S. – die ersten sechs ordnete er automatisch den Mordopfern zu, dem Selbstmörder Kranz, Radners Freundin und Friedrich. Und auch bei den letzten beiden Buchstaben war er sich sicher, wie der volle Name lautete: Raimund Sonnbichler. Schäfer ging die Daten und Orte durch und versuchte sie mit dem Banküberfall und von Habermanns Entführung in Verbindung zu bringen. Da stand einmal Hornweg, da Aschau, da ’77, da ’79 … ohne Radners Hintergrundwissen war es sinnlos, musste er bald feststellen – doch zumindest ergaben sich keine Widersprüche. Allerdings blieb noch eine der wichtigsten Fragen offen: Warum hatte er das Dokument überhaupt bekommen? Vier der Komplizen waren tot, Friedrich war weit weg von Kitzbühel, wo sich der Mörder immer noch aufhielt, und dass dieser die Initialen seiner eigenen Mutter nicht erkannt hätte, war unwahrscheinlich. Blieb nur Sonnbichler. Dessen Identität dem Täter möglicherweise verborgen geblieben war. Schäfer lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er brauchte jemanden, der ihn beriet. Doch was würde er schon zu hören bekommen, außer, dass er seine Kollegen informieren und seinen riskanten Alleingang beenden sollte. Er holte sein Telefon aus dem Jackett und rief Konopatsch an.
„Hallo … Bist du in der Arbeit? … Ich bin in einer halben Stunde bei dir … Ich brauche ganz dringend eine DNA-Analyse … Von einem Knochenstück … Wie alt? Knapp dreißig Jahre … Na, dann wollen
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