Schäfers Qualen
einen schmalen Fußweg ein, der bald von hohen Fichten gesäumt war. Hier verlangsamte er sein Tempo und konzentrierte sich auf eine gleichmäßige Atmung. Was hatte ihn so in Angst versetzt? Die Graffl-Wetti mit ihrem staupigen Hund? Wohl kaum. Der Alkohol, den er nicht mehr gewohnt war und der sein hormonelles System durcheinandergebracht hatte? Die Erinnerungen? Die Toten, die einem immer einen letzten Gruß mitgaben? Manchmal Segen, manchmal Fluch.
Er kam auf eine Schotterstraße, die sanft ansteigend zu einer Hochalm führte, wo Schäfer nach einer guten Stunde seine erste Pause einlegte. Als er sich im Brunnen neben der Alm das Gesicht wusch, läutete sein Telefon. Konopatsch. Er drückte auf die Empfangstaste, hielt sich den Apparat ans Ohr und hörte den Ausführungen des Gerichtsmediziners zu. Er hatte keine Lust auf ein langes Gespräch, versprach Konopatsch, am Abend zurückzurufen, und legte auf. Ein winziger Einstich im Gesäß. Ketamin und Xylazin im Blut. Krassnitzer war mit einem Betäubungscocktail narkotisiert worden, der normalerweise Tieren vorbehalten ist und in einer Spritze mithilfe eines Blasrohrs oder Luftdruckgewehrs verschossen wird.
Schäfer setzte seine Wanderung fort und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ketamin: in der Drogenszene gar nicht so selten; eigentlich verwunderlich bei den Horrortrips, die es häufig auslöste. Hätte Krassnitzer allein auch schon betäubt. Wobei die Dosierung nicht so einfach ist. Und jetzt kommt Xylazin dazu: von der Drogenszene in die Veterinärmedizin. Wer tut sich das an? Da müssen irgendwo Spuren hinterlassen worden sein: Einbruch, Diebstahl, vielleicht auch eine Verschreibung; und ging es nur darum, Krassnitzer in aller Ruhe einbetonieren zu können, oder sollte es heißen: Krassnitzer, das Tier? Außerdem muss der Täter gewusst haben, wie viel sein Opfer ungefähr wiegt, um ihn nicht sofort zu töten. Hat er das akribisch geplant? Nur eine effiziente Methode gesucht, um sein Werk ungefährdet zu verrichten? Oder will er etwas erzählen?
Schäfer lief der Schweiß ins Gesicht. Er sah das Gipfelkreuz in ein paar hundert Metern Entfernung und blieb stehen. Steiner geht hier entlang. Am Morgen scheint ihm die Sonne genau ins Gesicht. Es blendet ihn, er schaut auf den Boden und bemerkt den anderen erst spät.
Schäfer erreichte den Gipfel und ging langsam um das Kreuz herum. Zumindest einer von der Spurensicherung muss vom Alpenverein gewesen sein. Keine Zigarettenstummel, kein Taschentuch, gar nichts. Saubere Arbeit. Nichts erinnert an ein Verbrechen, lässt man das Kreuz generell einmal außer Acht. Schäfer setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an das Gipfelkreuz und öffnete seinen Rucksack. Er trank die halbe Mineralwasserflasche leer und nahm sich die Schokolade vor. Dann klappte er den Deckel der Metallbox auf, die am Gipfelkreuz befestigt war, und entnahm ihr das Gipfelbuch. 2001. Er schlug das Buch auf und begann die Einträge der Bergsteiger zu lesen, die in den letzten Jahren hier heroben gewesen waren. Traumhaftes Wetter, ist man Gott viel näher, von dort über da, Blasen an den Füßen, nach ein paar Seiten konzentrierte er sich auf die Namen und Unterschriften. Steiner tauchte einige Male auf. Über seinem Namen und dem Datum stand jeweils nur ein Wort: Erster! Ein kühler Wind kam plötzlich auf und ließ Schäfer frösteln. Er wechselte sein T-Shirt und packte seine Sachen mitsamt dem Gipfelbuch ein. Weiter unten kannte er eine sonnige und windgeschützte Stelle, wo es sich angenehmer rasten ließe.
Fast fröhlich lief er die Bergwiese hinab, wich hüpfend einzelnen Alpenblumen aus und legte sich dann in einer weichen Mulde ins Gras. Er schlief ein. Im Traum sah er sich in einem weiten, schönen Tal liegen. Er wusste zuerst nicht, ob er schlief oder tot war. Dann riss ihn plötzlich ein hölzernes Trommeln aus seinem friedlichen Schlaf. Er richtete sich auf und sah Sepp Rohrschacher um ihn herumtanzen, zwei riesige Knochen in Händen haltend, die er rhythmisch gegeneinander schlug, während er dazu sang: „Schäfer, Schäfer, meck meck meck, am Stecken hat hier jeder Dreck. Schäfer, Schäfer, hollari, wenn du nicht gräbst, dann fängst ihn nie!“
„Rohrschacher“, fuhr ihn Schäfer an, „lass mich in Ruhe mit deinen Knochen.“
Rohrschacher hielt inne, sah ihn traurig an und ging dann auf die Knie. Im nächsten Augenblick sah Schäfer einen großen Hund neben sich, der die beiden Knochen eingrub. „Brav,
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