Schäfers Qualen
ganz brav“, sprach er das Tier an, „aber nicht vergessen, wo du sie versteckt hast.“
Schäfer öffnete die Augen und blickte einem Grashüpfer ins Gesicht, der im nächsten Moment auf seiner Nase landete. Hektisch mit dem Kopf schüttelnd sprang er auf. Er war durstig, trank den Rest des Wassers und machte sich auf den Weg ins Tal. In seinem Kopf fiel alles durcheinander, wie die Kleider in einer Waschmaschine: sein Traum, der Mord an Steiner, Erinnerungen an Maria, mit der er diese Strecke oft gegangen war. Er kam an einer Bank vorbei, die er beim Aufstieg gar nicht bemerkt hatte. Wohl, weil sie sich aufgrund des stark verwitterten grauen Holzes wie ein abgestorbener Baum in die Landschaft fügte. An der Lehne war ein metallenes Schild angebracht. Schäfer trat näher und entzifferte die oxidierte Schrift: „Dem müden Wandersmann. Gewidmet von Julius von Habermann.“ Schäfer musste lächeln. Frauen hatten sich damals wohl zu Füßen der Männer auf die Erde zu legen.
Von Habermann. Ein Industrieller aus einem deutschen Adelsgeschlecht, das sich schon in den Zwanzigerjahren in Kitzbühel eingekauft hatte, um dort die kurze Freizeit und den langen Ruhestand zu genießen. Stolze und doch sehr sympathische Leute, wie Schäfer sie in Erinnerung hatte. Und natürlich so reich, dass es im Vergleich zu den anderen Reichen der Stadt einen anderen Begriff gebraucht hätte. Als Schäfer ein Kind war, ging einmal das Gerücht über eine versuchte Entführung des jüngsten Sohnes der Habermanns um. Aber außer dass die Familie eine Zeitlang im Ort kaum gesehen und ihr Anwesen auffällig oft von Fremden besucht wurde, bekam dieses Gerücht keinerlei Nahrung und wurde von aktuellerem Klatsch abgelöst.
Wie er selbst, Schäfer, wohl von den Menschen der Stadt gesehen wurde? Hatten sie seine Geschichte verfolgt, hatten sie jetzt Respekt vor dem Major der Kripo, was war ihre Wahrheit? Von einer zarten Melancholie, die ihn kurzzeitig in Beschlag nahm, ging Schäfers Zustand für ihn selbst überraschend in eine seltene Sorglosigkeit über, die sich bald zu einer kindlichen Fröhlichkeit steigerte. Die Berge und die Wiesen und der Wald und der kühle Wind und die Blumen und die Sonne und die Kühe, die dort vor dem Stall stehen, der Bauer, der langsam das Gatter schließt und ihn mit einer nachlässigen Geste grüßt, die beiden alten Frauen, die so ins Gespräch vertieft sind, dass sie immer wieder stehen bleiben, um das Gesagte wirken zu lassen, und Schäfer erst bemerken, als er auf gleicher Höhe ist, freundlich auf seinen lachenden Gruß reagieren, sie kennen ihn sicher, was werden sie sagen, wenn er sie nicht mehr hören kann, dass er schon immer so ein fröhlicher Bub war, den die Mädchen angehimmelt haben, so gescheit, aber schwermütig halt auch, daran wollte er jetzt nicht denken.
Wie wäre es denn, die Rezeptionistin zum Essen einzuladen? Sie in ein überteuertes Restaurant auszuführen, wo er sich vor den Blicken und Vermutungen der Einheimischen sicher wüsste, nach dem Bestellen über den Tisch hinweg in ihre schalkischen Augen zu sehen, während des Essens sich an der Einfachheit ihrer Intelligenz zu erfreuen, sie zum Lachen zu bringen, was er zweifelsohne konnte, wenn ihm danach war, er dachte daran, wie es wäre, wenn sie die Letzten im Restaurant wären, die Kellnerin die leeren Tische abzuräumen begänne, ob er sie bitten würde, mit ihm mitzukommen, weil er die Einsamkeit jetzt nicht ertrüge, mit ihr ins Hotel zurückzukehren, natürlich den Personaleingang nehmend, damit der Nachtportier nichts bemerkte, bevor sie aufs Zimmer gingen, würde sie sich von ihrem Kollegen an der Hotelbar gegen das Versprechen, am nächsten Tag eine neue zu bringen, eine Flasche Wein geben lassen, im Lift würden sie sich noch nicht küssen, eher wie zwei angeheiterte Teenager kichern und sich gegenseitig ermahnen, leise zu sein, dann würden sie auf dem Balkon stehen, in der Stille der noch warmen Nacht plötzlich schweigsam werden, sich zum ersten Mal erkennend ansehen, die Gesichter einander zuwenden, die Lippen des anderen finden, sich küssen, sich verlieren.
Schäfer betrat das Hotel und sah, dass ein älterer Mann an der Rezeption Dienst hatte. Er begrüßte ihn freundlich und blieb sogar kurz stehen, um ein paar Sätze über den wunderbaren heutigen Tag und die Wettervorhersage für den nächsten auszutauschen. Als Schäfer in Richtung Fahrstuhl ging, rief ihm der Rezeptionist hinterher: Er hätte fast
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