Schäfers Qualen
Parkplatz vor dem Revier ging. Das sah voller Zufriedenheit auch das Augenpaar, das Schäfer folgte, bis er aus dem Blickfeld verschwand.
24
Gut gelaunt schlenderte Schäfer durchs Stadtzentrum und schaute in die Auslagen der Geschäfte, die es in seiner Jugend großteils noch nicht gegeben hatte. Ein paar Einheimische, deren Gesichter er noch von früher kannte, spazierten an ihm vorbei und grüßten ihn; wobei er an ihrem Blick erahnte, dass sie ihn nicht eindeutig zuordnen konnten. Sie sind älter geworden; sie haben dem Ort die Treue gehalten. Eine leichte Wehmut beschlich ihn. Ein leises Echo der Gefühle, die er empfunden hatte, als er weggegangen war. Das schmerzhafte Oszillieren zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit, die er hier immer noch irgendwo zu finden geglaubt hatte, und der immer stärker werdenden Gewissheit, dass er fliehen musste, bevor es ihn oder er sich zerstören würde; fliehen vor der saisonalen Euphorie und Geilheit, die der Fremdenverkehr erzeugte, die sich auf Dauer nur im künstlichen Rausch ertragen ließen; fliehen vor der Lähmung und Depression, die den Ort und insbesondere die Sensiblen in der Nachsaison hier niederdrückten, die einige in die Karibik und andere in den Suff führten oder zu den anderen Drogen, die es offiziell hier nie gegeben hatte; eine Überdosis hieß hier Herzversagen, wobei die wenigsten begriffen, wie viel Wahrheit in dieser Lüge steckte; wie vielen seiner Freunde und Bekannten hatte hier das Herz versagt, wer wollte sich schon mit den Gefühlen und Sehnsüchten derer befassen, die scheinbar so lebensfroh waren, dass sie sich so oft wie möglich in die karge und versteinerte Schroffheit des Hochgebirges begaben, stundenlang durch Sturm und Eiseskälte hasteten, Gipfeln zu, ja, sie trugen Skier und Kletterausrüstung, sie waren trainiert, muskulös und ausdauernd, das zeigte doch ihre Liebe zum Leben, sie liebten die Bewegung, die sie fortbrachte und zurückbrachte, zu oft auch nicht mehr; gewiss, wer unter eine Lawine kam oder Hunderte Meter in die Tiefe stürzte, dessen Familie konnte zumindest auf ein kirchliches Begräbnis zählen, während sich der Jungbauer, der in der Tenne am Balken hing, weil er alles zusammen nicht mehr aushielt, mitsamt Schuld und Schulden, ohne Segen verscharrt wurde. Zum Glück, sagte sich Schäfer im Nachhinein, war die Besitzerin des Schuhgeschäfts, an dessen kühlem Schaufenster seine Stirn lange Minuten gerastet hatte, eine warmherzige und im wahrsten Sinne christliche Frau, die bei seinem Anblick nur ihn und nicht sich selbst gefragt hatte, ob alles in Ordnung wäre, worauf er ihr ohne Antwort ins Geschäft gefolgt war und sie fragte, ob sie ein Paar schöne Schuhe für ihn hätte.
„Ja, Johannes, du hast Glück, eins habe ich noch“, sagte sie und bot ihm an, sich zu setzen. Schäfer, der im ersten Moment geglaubt hatte, dass wirklich nur mehr ein Paar in seiner Größe vorrätig wäre, lachte auf, als er ihren Scherz verstand, und nahm auf der ledergepolsterten Probierbank Platz.
„Also nicht in dem Stil, wie ich sie jetzt anhabe“, zeigte er auf Gassers Schuhe, „schon robuster und dass ich lange damit gehen kann.“
Die Frau nickte und ging, um ihm ein paar Modelle zu holen. Schäfer gefielen ein Paar schwarze Schnürschuhe aus genarbtem Rindsleder sowie ein Paar aus dunkelbraunem Rauleder und er ließ sich die beiden in seiner Größe bringen.
„Du bist wegen der Morde hier“, sagte die Frau, öffnete die Schachteln, nahm die Schuhe heraus und fädelte die Bänder ein.
„Ja, leider“, schmunzelte Schäfer und schlüpfte in den Raulederschuh.
„Das ist schlimm …“, meinte sie und stand auf, um die neuen Schuhe an Schäfers Füßen zu betrachten.
„Die Schuhe?“ fragte er, weil er sich nicht allzu ernsthaft über den Fall unterhalten wollte.
„Nein, die schauen sehr gut an dir aus. Dass jemand bei uns drei Menschen umbringt, das ist schlimm. Warum macht einer so was?“
Schäfer blickte ihr in die Augen und überlegte einen Augenblick, während er das andere Paar anzog.
„Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem weitererzählst, sag ich dir, was ich glaube.“
Sie schaute ihn überrascht an und schien nicht zu wissen, ob er es ernst meinte.
„Nein, das kann ich dir nicht versprechen. Irgendwann erfahren wir es sowieso alle, oder?“
„Sicher“, sagte er und stand auf, um ein paar Schritte in den Rindslederschuhen zu gehen, „es kann noch eine Zeitlang dauern, aber ich kriege
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