Schäfers Qualen
niederländischer Tourist. Doch zumindest entsprach es in jedem Punkt der österreichischen Straßenverkehrsordnung … Vielleicht hatten sie es ihm ja genau aus diesem Grund hingestellt. Er setzte sich auf den ergonomischen und hodenschonenden Gelsattel, überprüfte die Sitzhöhe und drückte beide Bremsen. Mit einem Antritt, der allen in der Nähe befindlichen Passanten sofort klarmachen sollte, dass hier kein Sonntagsfahrer auf die Pedale losging, rumpelte Schäfer über die Gehsteigkante, zwang den Kleinlaster eines Gemüsehändlers zu einer Vollbremsung mit wütendem Hupen und fuhr wettkampfmäßig den Stadthügel hinab.
Der erste Anstieg zum Radweg nach St. Johann machte ihm allerdings gleich klar, dass ihn spätestens dort alle wahren Mountainbiker überholt hätten. Verdammtes Stadtleben, verdammte Büroexistenz, fluchte er vor sich hin, während ihm die ersten Schweißtropfen auf die Stirn traten; er schwor sich, ab jetzt besser auf seine körperliche Verfassung zu achten. Den weiteren Streckenverlauf wusste er jedoch frei von demütigenden Steigungen und er freute sich auf ein kommodes Dahinfahren, das er zwischendurch immer wieder mit kraftvollen Sprints zum Sport erheben würde. Gerade als ihm zwei rennmäßig gekleidete Mountainbiker im entsprechenden Tempo entgegenkamen, läutete im Rucksack sein Telefon. Die abschätzigen Blicke der beiden verleiteten Schäfer dazu, das Läuten zu ignorieren und erst ein paar hundert Meter weiter an einer Bank zu halten. Er lehnte das Rad an den Stacheldrahtzaun, der den Weg von der Weide abtrennte, setzte sich und holte das Telefon heraus. Bergmann. Er drückte auf die Wähltaste und wartete.
„Grüß Gott, Major. Wie läuft’s in den Bergen? … Das klingt ganz so, wie ich mir Tirol vorstelle … Nein, war ich noch nie … Jetzt? … Ich weiß nicht … Wenn Sie es für nötig erachten … Ja … Ich denke darüber nach … Weswegen ich eigentlich anrufe: das Bild, von dem Deutschen, ich habe es einem alten Freund vom BKA in München geschickt … Ja, ich bin halt ein sozialer Mensch … also, das war jetzt nicht … Ja … Und: touché, Ihr Friedrich, übrigens ein Namenskollege von Ihnen … Also Johannes Friedrich war Mitglied der RAF und 1983 an einem Anschlag auf eine amerikanische Militärbasis beteiligt, bei dem drei US-Soldaten umgekommen sind … 1985 wurde er in den Niederlanden verhaftet und an Deutschland ausgeliefert, wo er die nächsten zehn Jahre inhaftiert war … Gleich … Nach seiner Freilassung hat er sein Studium an der Filmakademie beendet … Mehr hat mir mein Kollege nicht sagen können, aber ich bin sicher, dass ich bis zum Abend … Nein, dass er davor an irgendwelchen Aktionen beteiligt gewesen wäre, konnte ihm nie nachgewiesen werden … Ja … Danke … Der andere ist ihm nicht bekannt … Nein, die Frau auch nicht … Mach ich … Ich melde mich …“
Bergmann, du gehörst befördert. Schäfer verstaute sein Telefon im Rucksack und ließ sich die neuen Informationen durch den Kopf gehen. Wieso arbeitet jemand, der sich im bewaffneten Kampf gegen das herrschende System engagiert, als Abwäscher auf einer Tiroler Skihütte? Oder hat ihn erst die Dekadenz des österreichischen Alpintourismus so weit gebracht, dass er anschließend Militärbasen in die Luft jagen musste. Friedrich war Ende der Siebzigerjahre in Kitzbühel gewesen. Ein Student der Filmakademie, der hier einen Ferial-job hat, dann möglicherweise an der Universität in Kontakt zur RAF kommt und sich zum Terroristen wandelt? Die RAF-Zeit. 1977 war in Österreich der Chef eines Textilkonzerns entführt worden. Schäfer erinnerte sich an den Vortrag eines Beteiligten an der Uni nach dessen Freilassung Anfang der Neunziger. Und an die Scham, die er selbst empfunden hatte, angesichts der unverhältnismäßig hohen Strafen und der inhumanen Haftbedingungen, die einen der drei Entführer schließlich in den Selbstmord getrieben hatten. Nach diesem Vortrag war Schäfer von Zweifeln bezüglich der Richtigkeit seiner Berufswahl und vor allem hinsichtlich seiner Auffassung von Recht und Unrecht gequält worden. Dieser Mann hatte mehr Intelligenz und Leidenschaft in sich gehabt als Schäfers gesamtes damaliges Korps. Und er war einer der wenigen in Österreich gewesen, die sich nicht mit dem En-vogue-Gewäsch der linken Studenten befriedigten, sondern Aktionen setzen wollte, um eine in seinen Augen bessere Welt zu schaffen. Die RAF hatte ihn verarscht, das Lösegeld genommen und
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