Schäfers Qualen
Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, wies ihn der Vater an, im Keller auf ihn zu warten, worauf Schäfer folgsam die steile Betonstiege hinabstieg. Er drückte die Brandschutztür auf und stand im Vorraum des Kellers, den der Vater schon Jahre vor seiner Pensionierung zu einer Werkstatt ausgebaut hatte, deren eigentümliche Zusammenstellung an Werkzeugen und Maschinen jeden Besucher im Unklaren darüber ließ, was hier eigentlich hergestellt werden sollte: Uhren? Möbel? Kostüme? Schäfer öffnete die Holztür zum eigentlichen Werkraum und lächelte verträumt. Er wusste nur zu gut, was sein Vater hier erzeugte: Marionetten, wie er sie sonst noch nirgendwo gesehen hatte. Kunstvolle Holzfiguren, die mit ihren alles andere als ungelenken Bewegungen immer wieder für neue Überraschungen sorgten. Schäfer erinnerte sich an den Jazzpianisten, den der Vater seinen Söhnen zu „I put a spell on you“ von Screamin’ Jay Hawkins vorgeführt hatte. Ohnehin schon kreischend vor Begeisterung wegen der irren Zuckungen, die der kleine schwarze Kerl am Piano vollführte, waren sie völlig aus dem Häuschen geraten, als dem Pianisten am Höhepunkt des Liedes auch noch der auf einer Art ausfahrbarem Mininotenständer steckende Augapfel heraussprang. Verständlich, dass der Vater in den folgenden Wochen angesichts der unbarmherzigen Forderungen seiner Söhne nach immer besseren Tricks beizeiten die Geduld verlor und die Tür zur Werkstatt einfach hinter sich verschloss. Schäfer setzte sich auf einen Holzschemel und atmete die nach Buchenholz, Leim und Lackfarben duftende Luft ein. Er nahm sein Telefon heraus und schaltete es auf Lautlos. Kurze Zeit später kam sein Vater zurück; mit einer geöffneten Weinflasche und zwei Gläsern, die er behutsam abstellte, halbvoll schenkte und seinem Sohn eins davon in die Hand drückte.
„Koste und staune“, sagte er und sah Schäfer erwartungsvoll an.
Der schwenkte das Glas, wie es von ihm erwartet wurde, nahm einen Schluck und war ehrlich überwältigt.
„Ja ja“, konnte der Vater nicht mehr an sich halten, „das bekommst du in Wien nicht. Château Lafite, 1983. War ein guter Tausch. Hölzernes Rotkäppchen mit aus dem Korb zu ziehendem Rothschild gegen einen echten. Was sagst du?“
„Bin beeindruckt“, sagte Schäfer und nahm noch einen Schluck.
„Na na, nicht so hastig. Wir haben da ein Monatsgehalt vor uns stehen. Also dann: zum Wohl!“
Als sie die Gläser aneinanderstießen, war Schäfer nahe daran, in Tränen auszubrechen. Er atmete tief durch, stellte das Glas beiseite, stand auf und ging zum Wandregal. Die jüngsten Kunstwerke der Marionettenwerkstatt: ein nach außen hin schlichter Walfisch, dessen obere Hälfte sich jedoch aufklappen ließ und den Blick freigab auf Pinocchio und Gepetto, die an einem kleinen Tisch Karten spielten. Laokoon, der sehende Priester aus Troja, um den sich vier Schlangen wanden, die sich jede für sich bewegen ließen. Das Empire State Building, das in der Mitte auseinanderklappte und einen wütenden King Kong zeigte, der in jeder Pranke ein Flugzeug hielt und damit um sich schlug. Und auf dem obersten Regalbrett schließlich eine Puppe, die größer als die anderen war – größer als alle, die Schäfer in der Werkstatt seines Vaters je gesehen hatte, wie er sich zu erinnern meinte. Als Schäfer sie nehmen wollte, klopfte ihm sein Vater leicht auf die Finger und sagte, dass die Farbe noch nicht trocken wäre. Er nahm die Puppe vorsichtig an der obersten der fünf kreuzförmigen Aufhängungen und trug sie zu seinem Werktisch. Mit der freien Hand nahm er einen Industrieföhn, schaltete ihn ein und ließ die warme Luft mit einer gleichmäßigen Auf-und-ab-Bewegung auf die Puppe blasen. Schäfer schaute ihm wie hypnotisiert zu. Die Marionette hatte eindeutig seine Gesichtszüge, seine Haarfarbe, seine Frisur, sogar der schwarze Anzug mit dem schmalen aufsteigenden Revers und das weiße Hemd, dessen oberster Knopf offen stand, waren ihm abgeschaut. Der Vater schaltete den Föhn aus, stellte ihn beiseite und gab seinem Sohn die Premiere vom hölzernen Major Schäfer. Der mit lässigen Schritten, hin und her wippenden Schultern und einem sich immer wieder vorschiebenden Kinn eine fiktive Straße entlangspazierte. Dann hielt er plötzlich inne, schien die Gefahr zu wittern, die ihn bedrohte, blickte mit einer anatomisch nicht ganz korrekten Drehung des Kopfes zur Seite, griff mit der rechten Hand blitzschnell unter sein
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