Schängels Schatten
stand nicht viel darauf. Carola hatte mit schwarzem Kugelschreiber eine Koblenzer Telefonnummer notiert; außerdem ein Wort, das Mike für eine Straßenbezeichnung hielt. Langendorfer Feld. Eine Hausnummer war nicht angegeben. Die beiden Informationen gehörten offenbar zusammen.
Aus alter Gewohnheit übersetzte Mike die Telefonnummer in Musik. Die Melodie, die in seinem Kopf entstand, war eigenartig. Die erste Ziffer war eine Zwei, also begann die Melodie mit der zweiten Note der Tonleiter, einem D. Dann schwang sie sich über die Sext hinauf in die Oktave, dann runter zur Quarte, über die Sexte und Quinte wieder zur Sekunde. Eine abenteuerliche Berg- und Talfahrt von Tönen. Gar nicht einfach zu harmonisieren. Man musste manche Noten deutlich länger machen und dann eine raffinierte Harmonik entwickeln, um dem Ganzen einen Sinn zu geben …
Gewaltsam riss er sich los. Du verdammter Idiot, schalt er sich. Was machst du hier eigentlich? Carola ist ermordet worden, und du spielst deine Musikspielchen.
Er musste etwas unternehmen.
Hinweise gab es ja. Wo das Geld steckte, stand sogar in der Zeitung. Er musste nur den Artikel finden. Eine zwanzig Jahre alte Zeitung musste doch aufzutreiben sein.
Wann hatte Carola das Geld wohl versteckt? Es konnte nur zwischen April 1982, dem Abend, an dem sie den Koffer gefunden hatten, und ihrem Unfall gewesen sein. Und der hatte sich in den großen Ferien danach ereignet. Wenn die Sommerferien im Juni begonnen hatten, musste er nichts weiter tun, als drei Monate der Zeitungen von damals durchzublättern und dabei auf eine Meldung über eine Kletterin zu achten. Schon wusste er das Versteck. Gar kein Problem.
Und vielleicht gab es ja noch andere Spuren. Carola hatte möglicherweise auch mit anderen alten Bekannten gesprochen. Es konnte sein, dass sie eine Bemerkung darüber fallen gelassen hatte, wo sie damals geklettert war.
Gehörte die Telefonnummer auf dem gelben Block jemandem, mit dem sie sich in den letzten Tagen getroffen hatte? War die Bezeichnung »Im Langendorfer Feld« die Adresse des Verstecks? Mike spürte, wie ihn Nervosität ergriff. Die Lösung des Rätsels war so nah, dass er nur mit der Hand danach zu greifen brauchte!
Dann ließ ihn wieder etwas zögern. Das Geld. Er hatte nur darüber nachgedacht, wie er an das Geld kommen konnte. Was war mit Carolas Mörder? Er überlegte eine Weile. Ob das überhaupt alles zusammenhing? Carolas Pläne, das Geld zu bergen. Ihre Recherchen in der geheimnisvollen Sensationsgeschichte. Ihr Tod …
Wenn ja, musste er Nickenich reinen Wein einschenken. Es war ein Fall für die Polizei. Darüber hatte er schon mit Carola gesprochen. Was hatte sie noch gesagt? Wenn sich die Polizei darum kümmert und alles herausfindet, dann wäre die Geschichte nicht mehr so sensationell.
Mike atmete tief durch und wühlte im Handschuhfach. Nach kurzem Überlegen schob er eine CD in den Player. Schwere Klavierakkorde klangen aus den Boxen, dann erfüllte eine weit ausschwingende Melodie den Innenraum des Peugeots. Mike fuhr los. Der erste Satz des zweiten Rachmaninow-Klavierkonzerts war noch nicht verklungen, da sah er wieder die weite Ebene vor sich. Das Rheintal.
Wo Koblenz lag.
4
Als Mike noch in der Schule gewesen war, hatten sie mit der Klasse einmal das Stadtarchiv besucht. Es befand sich in der Alten Burg, einem mittelalterlichen Gebäude, das gleich neben der Balduinbrücke lag. Vor allem der Lehrer hatte sich dafür begeistert. Mike und seine Klassenkameraden, alle so um die zwölf, dreizehn Jahre alt, hatte die Besichtigung eher gelangweilt.
Merkwürdig, dachte Mike. Zwanzig Jahre habe ich kaum an Koblenz und noch weniger an das Stadtarchiv gedacht, und jetzt fällt mir alles wieder wie auf Kommando ein.
Die Zeitung, die er durchblättern musste, war mit Sicherheit die Rhein-Zeitung. Die einzige Tageszeitung am Ort. Damals jedenfalls. Keine Ahnung, wie das heute war. Aber darauf kam es ja nicht an.
Es musste natürlich nicht unbedingt das Stadtarchiv sein. Er könnte sich auch direkt an den Verlag wenden und das Archiv der Zeitung dort durchforsten. Doch diese Variante gefiel Mike nicht. Abgesehen davon, dass irgendeinem dieser Sensationsreporter schnell auffallen könnte, dass der Hauptzeuge des Mordes im Verlagshaus herumspazierte, wollte Mike weitere Befragungen auf jeden Fall vermeiden. Sollte dieser Nickenich jedoch herausbekommen, dass er im Stadtarchiv gewesen war, konnte er sich leicht herausreden. Er konnte sagen,
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