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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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überwand er seine Erstarrung, rannte zum Schreibtisch und packte Carola an der Hand. Sie war warm.
    Während sich sein Herzschlag beschleunigte, suchte er im Zimmer hektisch nach einem Telefon. Endlich fand er einen Apparat auf dem Teppichboden neben dem Schreibtisch. Er tippte die Notrufnummer.
    Es kam kein Rufzeichen. Die Leitung war tot. Er folgte dem Kabel. Das Telefon war gar nicht angeschlossen. Mike sah sich suchend um. Es gab kein anderes. Ein Handy besaß er nicht.
    Er suchte die Wände ab und fand schließlich eine Telefonbuchse, die mit dem Laptop verbunden war. Mike zog den Stecker heraus, fummelte nervös den Anschluss vom Telefon hinein und bekam das Freizeichen. Er wählte 110, und eine Männerstimme meldete sich.
    »Eine Verletzte. Vielleicht ist sie auch tot«, keuchte Mike.
    »Geben Sie bitte Ihren Standort durch.«
    »Moselweiß, Burgweg.«
    »Die Hausnummer.«
    Mike dachte nach, aber sie wollte ihm nicht einfallen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ziemlich weit oben. Ich komme auf die Straße und warte auf Sie.«
    Als er aufgelegt hatte, breitete sich in seinen Ohren ein Rauschen aus. Das Zimmer verschwand langsam hinter einem Gestöber aus schwarzen Pünktchen. Mike setzte sich auf den Boden, direkt neben das linke Rad von Carolas Rollstuhl.
    Er atmete tief durch. Es war stickig hier drin. Er rappelte sich auf und wollte nach dem vergitterten Fenster neben dem Schreibtisch greifen. Es stand sperrangelweit offen. Mike stützte sich auf dem Schreibtisch ab.
    Ein kleines grünes Lämpchen unter dem Bildschirm blinkte in längeren Abständen. Der Monitor war jedoch schwarz. Neben dem Computer lag ein kleiner Block gelber Klebezettel. Auf dem obersten Blatt war etwas notiert.
    In Mikes Kopf überschlugen sich die Gedanken. Du musst Ruhe bewahren, sagte er sich. Die Polizei wird gleich da sein. Ihm fiel ein, dass sie ja die Adresse nicht wussten, und er stolperte hinaus auf die Straße.
    Dort war alles still. Der Burgweg lag genauso verlassen da wie vorhin. Mike spürte, wie angesichts dieser nächtlichen Reglosigkeit seine Unruhe noch wuchs. Er rannte ins Haus zurück. Carola starrte ihn immer noch an.
    Warum?, hämmerte es in seinem Kopf. Was war hier los?
    Ein Wagen bremste. Im Flur flackerte blaues Licht. Eine Tür klappte. »Hallo?«, rief eine Männerstimme. Er blickte auf die Schreibtischplatte und sah wieder das gelbe Blöckchen. »Hallo?«, rief wieder jemand.
    Dann näherten sich Schritte.
     
    Mike sah aus dem Fenster des Polizeipräsidiums. In der Ferne war der Felsen von Ehrenbreitstein zu erkennen. Die Festung war dramatisch beleuchtet; die rissige, steile Wand warf scharfe Schatten. Der Blick war nicht ganz vollständig. Er wurde von dem Zifferblatt einer gigantischen Uhr verstellt, das sich emsig drehte. Es wechselte sich stetig mit dem knallroten Sparkassensymbol auf der Rückseite ab. Die Uhr zeigte kurz nach halb vier.
    »Sie sagen, Sie haben Frau Zerwas über zwanzig Jahre nicht gesehen.«
    Mike nickte. »Einundzwanzig genau.«
    »Und nun besuchen Sie sie nach der langen Zeit, und genau an diesem Abend wird sie ermordet.«
    Mike nickte wieder. Der Mann, der sich als Kommissar Nickenich vorgestellt hatte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Halten Sie das nicht auch für einen großen Zufall?«
    »So ist es nun mal«, sagte Mike.
    Die letzten Stunden hatte er vollkommen passiv erlebt, und er war noch immer wie gelähmt. Alles um ihn herum – die Polizisten, die Befragungen, die Formalitäten – hatte er über sich ergehen lassen und kaum richtig wahrgenommen. Alles kam ihm wie ein böser Traum vor.
    »Haben Sie keine Erklärung dafür?«
    Mike schüttelte langsam den Kopf.
    »Na gut«, sagte der Hauptkommissar und stand auf. Obwohl es mitten in der Nacht war, sah Nickenich keineswegs müde aus. Er trug schwarze Jeans, ein violettes Hemd und einen dunklen Schlips. Sein schwarzer Bart, der die gesamte untere Hälfte des Gesichts bedeckte, war sauber gestutzt. Die dichten schwarzen Haare wirkten, als käme er gerade vom Frisör. »Dann wollen wir das Ganze noch mal durchgehen. In welchem Verhältnis standen Sie zu der Toten?«
    »Das habe ich schon gesagt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen …«
    »Einundzwanzig. Wie kam es zu dem Wiedersehen?«
    »Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen. Sie hat gesagt, sie würde wieder in Koblenz wohnen.«
    »Wo hat sie vorher gewohnt?«
    »Soviel ich weiß, in Berlin.«
    Nickenich griff in

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