Schängels Schatten
prüfte, war die Enthüllung einer Bronzetafel zu Ehren des ehemaligen Ministerpräsidenten Dr. Peter Altmeier.
Er suchte noch einmal den Artikel über den toten Soldaten. Dann fiel ihm ein Fetzen aus dem Gespräch mit Carola ein.
Ich habe mit Leuten geredet, die das Opfer gekannt haben, hatte sie gesagt.
Ob sie sich auch mit Frau Ramann getroffen hatte?
*
Es ist dunkel, und er starrt in das Nichts über seinem Kopf. Hat er geschlafen? Er weiß es nicht. Er ist zu matt, um den Kopf zu drehen und auf die Uhr zu schauen.
Er schließt die Augen, und plötzlich ist es hell. Blitze flammen auf, und Sekunden später kommt der Donner. Der Himmel ist klar. Es ist früh im Jahr, und die Luft könnte schon nach Frühling duften. Aber etwas anderes hat jedes Gefühl für die aufbrechende Natur zerstört.
Er reißt die Augen auf. Um ihn herum ist es still. Plötzlich dringt ein leiser Ton von irgendwoher.
Er setzt die Beine aus dem Bett und steht auf. Ohne Licht zu machen tritt er hinaus in den Flur und geht im Dunkeln hinüber ins Wohnzimmer. Die Fläche des Computerbildschirms leuchtet wie ein großes geheimnisvolles Auge in den Raum hinein.
Er geht näher heran.
Oben rechts blinkt die Grafik eines kleinen Briefumschlags.
Er setzt sich in den Sessel. Ohne das Blinken aus den Augen zu lassen, greift er zur Maus und öffnet die Mail.
5
Mike ging zur Post am Wöllershof zurück, ließ sich ein Koblenzer Telefonbuch geben und blätterte bei R. Der Archivar hatte richtig gelegen. Mike fand eine Inge Ramann, die in der Friedrich-Wilhelm-Straße wohnte. Das war in Ehrenbreitstein. Mike beschloss, einfach hinzufahren.
Als er zum Wagen ging, ertappte er sich dabei, wie er eine Melodie vor sich hin summte. Es waren die Noten, die er aus der Telefonnummer von Frau Hoffmann abgeleitet hatte. Sie wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er stellte sie sich mal jazzig-beschwingt vor, dann ernst und feierlich, dann cool als Techno, oder er verlieh ihnen durch Schnörkel und Verzögerungen eine verführerische Note.
Wie würde Frau Ramann wohl reagieren, wenn er nach so langer Zeit mit der alten Mordgeschichte ankam? Ob sie an den Tod ihres Sohnes überhaupt erinnert werden wollte? Wenn Carola bei ihr gewesen war, dann ließ sich an dieses Gespräch sicher anknüpfen. Wenn nicht …
Wie sollte er sich legitimieren? Er konnte sich ja kaum als Polizist ausgeben.
Im Wagen war es heiß. Während Mike die schnurgerade Strecke in Richtung Rheinbrücke entlangfuhr, kurbelte er das Seitenfenster herunter; die hereinströmende Luft war warm wie ein Föhn. Die Rhein-Mosel-Halle kam in Sicht; daneben erhob sich ein graues Hochhaus. Das Hotel Mercure, das ihm Frau Hoffmann empfohlen hatte. Mike fragte sich, ob da auch ein Barpianist beschäftigt war.
Als er auf die Brücke kam, nahm er unwillkürlich den Fuß vom Gas. Der Hang auf der gegenüberliegenden Seite war eine gigantische Baustelle. Zwei kreisrunde Betonröhren ragten aus dem Felsen und gähnten Mike entgegen. Davor wurde der Verkehr über schmale Spuren abgeleitet. Die Baustelle setzte sich bis hinunter zum alten Ortskern von Ehrenbreitstein fort. Früher war das mal ein ganz beschaulicher Stadtteil gewesen; jetzt sah es so aus, als hätten die Stadtplaner versucht, gewaltsam eine Autobahn hindurchzuquetschen.
Der Kapuzinerplatz sah heruntergekommen aus. Die Reste der alten Fassaden gegenüber der Bahnlinie wirkten trostlos und schienen auf die Abrissbirne zu warten. Die alte eiserne Fußgängerbrücke, die über die Hauptstraße führte, war mehr von Rost zerfressen, als Mike es in Erinnerung hatte.
Er bog am Eingang der Kapuzinerkirche rechts ab, fand einen Parkplatz und ging zu Fuß durch die schmalen Gassen weiter, vorbei an Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte, Dächern, die mit Plastikplanen geflickt waren, und Hauswänden mit abgeplatztem Putz. In schmutzigen Schaufenstern standen Schilder »Zu Verkaufen« oder »Zu Vermieten«.
In der Wambachstraße erstrahlte inmitten des Elends ein gelbes Gebäude in rekonstruiertem Glanz. Es war das Geburtshaus von Beethovens Mutter, mit dem sich Koblenz seit Jahren ein Scheibchen vom Ansehen des Genies sicherte. Auch wenn der berühmte Komponist selbst nicht hier, sondern in Bonn geboren worden war.
Das Haus in der Friedrich-Wilhelm-Straße gehörte wieder mehr zu den sanierungsbedürftigen Kandidaten. Die ehemals weiße Fassade war nachgedunkelt und hatte eine triste graue Färbung angenommen. Die Haustür war
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