Schängels Schatten
ein Haus war, aber trotzdem nur die Plattform für den metallenen Monarchen selbst. Wie das alles mal ausgesehen hatte, blieb ihm trotzdem fremd. Jetzt stand Mike da, sah zum ersten Mal die Rekonstruktion, und plötzlich kam ihm das alles nicht mehr echt vor. Es wirkte auf ihn wie eine Übertünchung, wie eine unangemessene, übertriebene Verzierung. Ein Fremdkörper.
Mike hörte neben sich die Stimme eines Reiseführers, der versuchte, seine Gruppe mit Witzchen bei Laune zu halten.
»Und im Jahre neunzehnhunnertunndreieneunzisch haben se ihn dann wieder druffgestellt, den aale Kaiser. An der Seite mit ’nem Genius, der neun Meder huh ist. Die Schuhgröß vom Wilhelm ist zwei Hunnert, und das zeigt, dat wir et hier mit einem der größten Kaiserstandbilder zu tun hann …« Der Mann unterlegte seine Ausführungen mit wilden Gesten. Die Gruppe brach wie kalkuliert in Gelächter aus.
Mike erklomm die breite Treppe. Er las die in altmodischen Lettern eingemeißelte Inschrift am Fuß der Granitmauer, über die sie damals schon in der Schule diskutiert hatten: »Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn ihr einig seid und treu.« Fetzen aus den Diskussionen von damals gingen Mike durch den Kopf. Treu wem gegenüber? War Treue nicht undemokratisch, wenn es sich auf Staatsführungen bezog? Und was hieß eigentlich Einigkeit? Damals hatte es zwei deutsche Staaten gegeben. Hatte nicht jeder davon seine Berechtigung?
Nein, hatte Dr. Lange gesagt. Der Musik- und Geschichtslehrer hatte mal eine Geschichtsstunde hier ans Eck verlegt. Er hatte versucht, den Schülern zu erklären, wer das eigentlich war, der da oben auf dem Sockel gestanden hatte. Und warum es das Denkmal überhaupt gab. Er wollte erläutern, dass es sich bei diesem Denkmalsockel um das Mahnmal der deutschen Einheit handelte. Manche hatten auf den Begriff »deutsche Einheit« mit einem Pfeifkonzert reagiert. Am Ende hatte Dr. Lange mit zitternder Stimme prophezeit, dass es eines Tages eine Wiedervereinigung geben werde. Die meisten hatten einfach gelacht. Die anderen hatten den Lehrer ignoriert und sich zu den Eisbuden am Rheinufer verdrückt.
Wie alt waren sie da gewesen? Siebzehn? Merkwürdig – das musste doch in der Zeit gewesen sein, als Mike mit Carola hier geklettert war. Warum kamen ihm die beiden Ereignisse heute so verschieden vor? So weit auseinander?
Mike erreichte den gewaltigen Granitkasten. Besucher, die das Denkmal besichtigen wollten, drängten sich hinauf. Manche hielten Reiseführer in der Hand: »The Rhine«. »Coblence«.
Auf der Rückseite befand sich die Stelle, wo sie damals geklettert waren. Alle vier Eckpfeiler waren genau gleich gebaut und zum Klettern gleich schwierig. Aber Carola hatte dafür plädiert, die Rückseite zu nehmen, weil einem dort die Höhe nicht so viel ausmachte wie über der vorn gelegenen, abfallenden Freitreppe. Mike betastete den Stein. Auf diesem Wappen hatte er versucht, Halt zu finden, und er hatte es sogar bis zu dem Wasserablauf dort oben geschafft. Immerhin.
Er betrat den unteren Eingang, fand den engen Wendeltreppenaufgang und erreichte den rundum laufenden Balkon, vor sich den grandiosen Ausblick auf die Moselmündung. Während er sich mit dem Hut Luft zufächelte, bewunderte er die Aussicht.
Von hier oben wirkte der bugförmige Kiesplatz wie ein riesiges Schiff. An den beiden schrägen Flussufern flatterten Fahnen an spalierstehenden Masten. Auf dem dunklen Wasser, wo sich die Flüsse trafen, wo die Mosel nicht mehr Mosel, aber auch noch nicht Rhein war, schwammen Möwen schaukelnd auf der Oberfläche. Wind kam auf und brachte den typischen süßlichen Geruch mit, den Mike schon als Kind untrennbar mit Spaziergängen am Deutschen Eck verbunden hatte.
Hier oben hatte er schon oft gestanden, aber zum ersten Mal wurde ihm klar, dass da unten nicht nur zwei Flüsse zusammenflossen, sondern auch zwei verschiedene Landschaften zusammentrafen. Auf der rechten Seite ragte der aufgefaltete Felsen von Ehrenbreitstein in die Höhe. Darauf duckte sich die alte Festung mit ihren bräunlichen Kasemattenmauern und winzigen Reihen von Fensteröffnungen, die wie kalte Augen in die Landschaft starrten. Auf der anderen Seite, jenseits der Mosel, war das Gelände flach. Am Ufer standen Wohnwagen und Zelte. Dort war der Campingplatz derjenigen, die unbedingt ganz nahe am Deutschen Eck Urlaub machen wollten.
Mike ging wieder hinunter. Am Fuß des Sockels fiel ihm eine unscheinbare Metallplatte auf. Die Inschrift
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