Schängels Schatten
für die Ausstattung bei großen Filmproduktionen.
Die Fotos zwischen den Textabsätzen zeigten Szenen hinter den Kulissen. Mike erkannte Gerüste mit aufgemalten Landschaften, davor Techniker, Kameraleute und kostümierte Schauspieler.
Weiter unten erschien ein großes Foto. Das war er. Richard Nair. Ein faltiges Gesicht mit lebendigen, sehr hellen Augen. Schneeweiße, dichte Haare. Der Firmengründer. Alt, aber vital. Mike klickte auf den unterstrichenen Link »Biography«, wie es ihm der Jugendliche erklärt hatte.
Wieder erschien Text, verbunden mit ein paar Bildern, auf denen Nair zu sehen war. Als junger Mann in Uniform. Vor einer Filmkulisse. Hinter einem Schreibtisch. Zusammen mit anderen Männern mit geschäftlicher Miene. Mike überflog den Text und erfuhr, dass Nair 1925 zur Welt gekommen war. 1955 hatte er seine Firma gegründet. I96I hatte er geheiratet. Auch das Hochzeitsbild stand im Internet, ebenso das Bild der ein Jahr später geborenen Tochter. Wie der Text verriet, hieß sie Deborah.
Mike verstand nicht, was daran so aufregend war. Hatte Carola wirklich diese Internetseite besucht? Wo war die journalistische Sensation? Dass Nair einen unehelichen Sohn hatte?
Mike verfolgte auch diese Seite bis ganz nach unten, und hier gab es wieder einen unterstrichenen Link. Das Wort, das da stand, kam ihm fremd vor, doch die Übersetzung war für einen Koblenzer das Geläufigste, was man sich vorstellen konnte: German Corner – Deutsches Eck.
Mike klickte. Die Seite, die aufging, war genauso gelayoutet wie die vorherigen. Text und Fotos, allerdings keine Aufnahmen von Nair. Dafür welche vom Reiterstandbild am Deutschen Eck. Wie es vor dem Krieg ausgesehen hatte – in mehreren Ansichten. Dann folgte eine Aufnahme, die Mike schon mal in einem Buch gesehen hatte. Pferd und Kaiser standen nicht mehr auf dem Sockel, sondern hingen zerstört an der Seite.
Mike las den Text. Er begriff so viel, dass die 87. US-Infanteriedivision im Zweiten Weltkrieg in Koblenz gekämpft hatte. Ein Datum stand daneben. 16. März 1945. Mike verstand: Nair hatte zu der Einheit gehört.
Mike überflog Lobhudeleien auf die Armee und auf einen amerikanischen General namens Patton. Ganz am Schluss folgte ein letztes Bild. Es war als Einziges in Farbe. Es zeigte einen Haufen Schrott. Mike erkannte Teile des Pferdes – zwei Beine, den Schwanz, den dicken Bauch. Ein Kopf mit Helm. Alles wüst durcheinander auf einem Haufen. Offenbar auf einem Industriegelände.
Das waren wohl die Teile des zerstörten Denkmals; irgendwann später fotografiert. Neben dem Schrotthaufen stand ein blonder junger Mann mit ernstem Gesicht. Mike erkannte ihn sofort. Die Bildunterschrift bestätigte es. Sie lautete übersetzt: »Die Überreste des Kaiserdenkmals vom Deutschen Eck. Daneben Wilfried Ramann, der die Reste gefunden hat.«
Aufgenommen im Jahr 1982.
6
Die ausgedruckten Blätter in der Hand, verließ Mike den Laden und bog in die Pfuhlgasse ein. Als er am Parkhaus ankam, war er es leid, das Papier ständig mit sich herumzuschleppen, und er beschloss, sie im Auto zu deponieren. Danach ging er zu Fuß weiter.
Er hatte darüber in der Zeitung gelesen. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Zwölf?
Egal. Sicher war: Wo damals, als Carola hinaufgeklettert war, nur eine dürre Deutschlandflagge geweht hatte, stand jetzt wieder der Kaiser mit Pferd in ganzer Pracht. Das musste er sich unbedingt ansehen.
Mike marschierte am Gerichtsgebäude vorbei, und als er an der Kastorkirche angekommen war, sah er den bronzenen Monarchen schon hinter der Mauer des Blumenhofes aufragen. Das dunkle Grün des Standbilds hob sich farblich kaum von dem dahinter liegenden Ehrenbreitsteiner Hang auf der anderen Rheinseite ab. Es wirkte gespenstisch. Wie eine Erscheinung aus einer anderen Zeit.
Mike betrat den bugförmigen Vorplatz, der von Touristen bevölkert war, und blickte zu dem Standbild hinauf, das sich fast drohend erhob. Der Kaiser saß auf einem gigantischen Pferd, neben ihm schritt eine Frau in antiker Kleidung. Das Denkmal zeichnete sich scharf vor dem blauen Himmel ab.
Als Kind hatte Mike geglaubt, dass das dunkle, kastenförmige Gebäude mit seinen kantigen Pfeilern bereits das Denkmal sei. Im Sprachgebrauch war es einfach »das Deutsche Eck« gewesen. Erst in der Schule hatte er irgendwann alte Fotos vom Originalzustand aus der Vorkriegszeit gesehen und mitbekommen, dass es sich nur um den gewaltigen Sockel handelte. Einen Sockel zwar, der so groß wie
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