Schängels Schatten

neuerdings ein Parkhaus. Die Abzweigung der Simmerner Straße den Berg hinauf war zu einem riesigen Straßendreieck gewuchert. Irgendetwas fehlte. Mike musste überlegen, was es war. Dann fiel es ihm ein: der alte Wasserturm. Er war wohl dem Straßenausbau zum Opfer gefallen.
    Die Neukarthause selbst dagegen war immer noch eine trostlose Trabantenstadt aus weißen und grauen Schuhschachtelhäusern in verschiedenen Variationen: Es gab Hochhäuser, lang gestreckte Mietskästen, aber auch kleine, wie Klötzchen nebeneinander liegende Behausungen. Um zu ihnen zu gelangen, musste man von den Hauptstraßen, die durch das Einerlei gesäbelt waren, die richtigen Abzweigungen finden. Dann gelangte man auf kleine Wendehämmer mit Parkplätzen und konnte sich leicht in einem Labyrinth aus Fußwegen verirren, die an halb hohen Gartenzäunchen und an langen Reihen immer gleicher Hauseingänge entlangführten.
    Mike kannte das Viertel ganz gut, weil hier viele seiner Klassenkameraden gewohnt hatten – fast alle Söhne und Töchter von BWB-Beamten, Soldaten oder Lehrern. Außerdem war die Strecke durch diese Gegend immer der letzte Teil seines Schulwegs gewesen. Das Gymnasium war nur ein paar hundert Meter entfernt.
    Dr. Langes Haus kannte Mike nicht. Er hatte nicht zur Clique seines nervigen, angeberischen Sohnes gehört und war deshalb im Hause Lange auch nie auf Partys eingeladen gewesen. Was Jürgen wohl heute machte? In der Schule hatte er immer davon geredet, später Medizin zu studieren, um »dicke Kohle zu machen«.
    Da war auch noch eine Frau gewesen – Langes Ehefrau. Auch Lehrerin, aber nicht am Gymnasium, sondern in der angrenzenden Grundschule. Sie war der Typ Schnepfe. Spitznasig, mit großer Hornbrille und herabgezogenen Mundwinkeln. Verrückt, wie manche Lehrer in der Erinnerung zu Karikaturen mutieren, dachte Mike. Und verrückt, was einem alles in den Kopf kam, wenn man an die alten Plätze zurückkehrte. Jahrzehntelang hatte man an die alten Zeiten nicht mehr gedacht, aber irgendwo in den tiefen Windungen des Gehirns blieb alles gespeichert. Man konnte eben nichts vergessen. Alles schlummerte irgendwo. Manchmal wurde es wieder aufgeweckt. Manchmal nicht.
    Mike ging eine Reihe von Klötzchenhäusern ab und fand die richtige Adresse. Er öffnete eine Gartentür aus dunkelbraunem Holz und betrat einen zwergenhaften Vorgarten. Trotz der Enge hatte jemand vor dem Haus zwei Stühle und einen Grill aufgebaut. Daneben stand eine fahrbare Gartenschlauchrolle parat. Sie wirkte angesichts der Liliput-Dimensionen großkotzig.
    Kurz nach Mikes Klingeln wurde hinter der Milchglasscheibe der Eingangstür eine Gestalt sichtbar, und die Tür schwang auf. Mike dachte einen Moment, er sei vielleicht doch an die falsche Tür geraten. Er hatte Dr. Lange als großen Mann in Erinnerung, der durch seine aristokratische Distanz immer Respekt ausstrahlte. Und das schon durch seine Kleidung. Blütenweißes Hemd, Anzug und Krawatte – anders war er nie in der Schule erschienen. Was nun vor ihm stand, war ein glatzköpfiges, gebeugtes Männlein in T-Shirt, khakifarbenen Shorts und Sandalen. Erst als der Mann lächelte, erkannte Mike in den Falten irgendwo den alten Lehrer wieder.
    »Guten Tag, Herr Engel«, sagte er mit brüchiger Stimme. Die kleinen Papageienaugen wanderten hin und her. »Nett, dass Sie mich mal besuchen.«
    Er hielt ihm die Hand hin. Mike nahm sie; sie war kalt wie ein Fisch.
    »Guten Tag, Herr Dr. Lange.«
    Der alte Mann ließ Mikes Hand nicht los und sagte: »Wie lange ist das jetzt her? Fünf Jahre?«
    »Fast zwanzig«, sagte Mike.
    Dr. Lange senkte den Blick und nickte. »Kommen Sie doch herein.«
    Er führte Mike ein paar Stufen zum Wohnzimmer hinunter, hinter dessen Scheiben im Licht des Spätnachmittags das fast künstliche Grün des hinteren Minigartens leuchtete.
    »Setzen Sie sich, junger Freund. Nur zu. Nehmen Sie Platz.«
    Mike erschrak, als er die Sitzgarnitur sah. Die Sessel und die Couch waren mit dreckiger Wäsche überhäuft. Vor der Schrankwand stand ein Bügelbrett, von dem ein Hemd herabhing. Auf dem Couchtisch drängte sich Verpackungsmaterial von McDonald’s. Dazwischen türmten sich kleine Schachteln. Verpackungen von Medikamenten.
    Dr. Lange kam zurück und brachte eine Sodastream-Flasche und zwei Gläser mit.
    Mike setzte sich neben eine Lage T-Shirts. Der Lehrer nahm lächelnd einfach auf der Wäsche Platz, schob die Pappreste mit dem großen gelben »M« zur Seite und goss die Gläser voll.