Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
Vom Netzwerk:
informierte darüber, dass das Deutsche Eck seit 1993 wieder hergestellt war; durch die Privatinitiative eines gewissen Ehepaars Theisen.
    Mike schritt über den Kies bis zur Bugspitze. Hier hatten sie damals gestanden und die Flagge im Wasser versenkt.
    Er lehnte sich an das Geländer und sah den Möwen zu. Carola hatte über das Denkmal recherchiert. Ein Denkmal, das viele Leute auf der Welt interessierte. Nicht nur die Touristen, die sich ständig hier herumtrieben, sondern auch einen gewissen Richard Nair, der Fotos des Denkmals auf seiner Homepage sammelte. Was war daran so interessant? Als der Kaiser 1993 ein zweites Mal an seinen Platz kam, dürfte die Presse Kopf gestanden haben. Aber heute? Jetzt war der metallene Monarch wieder eine schöne Sehenswürdigkeit und fertig. Wo war die Story?
    Er musste mehr über das Denkmal und seine Geschichte wissen. Vielleicht gab es ja Dr. Lange noch. Mike grauste bei dem Gedanken ein wenig, aber es war sicher am besten, mit ihm zu sprechen.
    Mike ging zurück in Richtung Kastorkirche. Durch das Stimmengewirr der Touristen drang Musik an sein Ohr. Am Rheinufer saß ein Mann und spielte Geige, begleitet von einem CD-Player. Mike erkannte eine jazzige Variante von »Tea for Two«. Als er das Deutsche Eck hinter sich gelassen hatte, ertappte er sich dabei, wie er die Melodie vor sich hin pfiff.
     
    Die Stimme klang hektisch und kurzatmig, als sei der Mann im Laufschritt ans Telefon gekommen.
    »Ja, hier Lange?«
    »Guten Tag, Herr Dr. Lange. Hier ist Michael Engel. Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Sie sind in der Oberstufe mein Lehrer gewesen.«
    »Engel? Martin Engel?«
    »Nein. Michael Engel. Ich hatte bei Ihnen Geschichte und Musik.«
    »Haben Sie Klavier gespielt?«
    »Ja, genau. Wissen Sie noch, wer ich bin?«
    »Ich erinnere mich, ja, ja. Wie geht’s Ihnen denn?«
    »Ganz gut. Wissen Sie, ich bin gerade in Koblenz, und ich wollte Sie was zur Stadtgeschichte fragen …«
    »So, so, interessant, ja …«
    »Hätten Sie vielleicht Zeit für mich?«
    »Ja, also, Zeit, ja, Zeit habe ich eigentlich gar nicht …«
    »Nur ein paar Minuten. Wissen Sie, ich wandele sozusagen auf alten Pfaden. Und da ist mir doch so manches durch den Kopf gegangen.«
    »Ja, ja …«
    »Heute war ich zum Beispiel am Deutschen Eck. Wie toll das da renoviert wurde.« Es klang ziemlich gezwungen, aber er musste an Lange irgendwie herankommen. »Es wurde ja wirklich Zeit, dass der Kaiser wieder zurückkommt …«
    »Das sagen Sie. Nicht alle waren früher dieser Meinung. Wissen Sie, das hat mich ziemlich viel Kraft gekostet, diese Diskussionen damals …«
    »Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber umso besser ist es, dass man jetzt das Denkmal wieder im Original bestaunen kann.«
    Lange lachte kurz. »Original? Was da steht, ist eine Rekonstruktion, mein Lieber.«
    Mike dachte an die Fotos auf Nairs Internetseite. Ganz am Schluss war die Aufnahme aus dem Jahr 1982 zu sehen gewesen. Das Denkmal, auseinander genommen auf einem Schrottplatz.
    »Hat man es nicht einfach … repariert?«, fragte er.
    Lange lachte wieder. »Wie kommen Sie denn darauf? Kein Mensch weiß doch, was aus dem Denkmal geworden ist.«
    »Nicht? Aber es hat doch die Überreste gegeben.«
    »Na, das wäre ja das Allerneueste. Wissen Sie – die Frage, was aus dem Denkmal geworden ist, dürfte eines der ganz großen Geheimnisse der Stadtgeschichte sein.«
    »Tatsächlich?«
    »Aber ja. Also, wissen Sie, das war so. Im März 1945 nahmen die Amerikaner Koblenz ein …«
    »Entschuldigung, könnten Sie mir das vielleicht bei einem Treffen erzählen? Meine Geldkarte ist gleich leer.«
    Lange sagte nichts. Wahrscheinlich wog er die Verlockung, ein bisschen über das Denkmal zu reden, gegen seine mangelnde Zeit ab.
    »Wann wollen Sie kommen? Heute noch?«
    »Wenn es Ihnen recht wäre.«
    »Dann kommen Sie mal, junger Freund. Wissen Sie, wo ich wohne?«
    »Ehrlich gesagt, nicht.«
    »Wie damals. Karthause.« Er nannte eine Adresse in der Cottbusser Straße.
    Mike hängte ein und trat aus dem engen, miefigen Telefonhäuschen hinaus auf die Straße. Vor dem Telefonat hatte ihn plötzlich die Müdigkeit eingeholt. Die Aussicht, mit seinem alten Lehrer reden zu müssen, war nicht gerade aufmunternd gewesen. Doch jetzt war er sehr gespannt auf das Gespräch. Hätte ihm das jemand vor zwanzig Jahren gesagt, er hätte ihn für völlig verrückt erklärt.

7
    Der Weg auf die Karthause kam Mike verändert vor. Hinter dem Bahnhof gab es

Weitere Kostenlose Bücher