Schängels Schatten
interessant fand er das nicht, aber Dr. Lange fuhr unbeirrt fort. »Das hochdeutsche Wort für Erzählern heißt zum Beispiel in der Koblenzer Altstadt ›verzehle‹, in Immendorf aber heißt es schon ›verzelle‹. Aufregend, was?« »Naja …«
»Sie kommen doch aus Güls, oder?«
»Geboren bin ich in Neuendorf. Eigentlich im Kemperhof in Moselweiß. Aber meine Eltern haben damals in Neuendorf gewohnt.«
»Wann sind Sie nach Güls gezogen?«
»Da war ich so drei, vier Jahre alt.«
»Jung genug. Sehr gut.« Dr. Lange sah Mike auffordernd an. »Wie würden Sie in der Mundart das Wort ›Fisch‹ aussprechen?«
»Hm. Fisch …« Mike dachte nach. »Gar nicht so einfach. Ich glaube, es heißt ›Fesch‹. Das Sprichwort lautet doch ›Bodder bei de Fesch‹. Oder?«
Dr. Lange schlug sich auf die Knie. »Hochinteressant! Sie haben das Wort aus der Koblenzer Altstadt benutzt. In Güls sagt man nämlich ›Fösch‹. Mit ›ö‹! Stellen Sie sich das mal vor!«
»Und was bedeutet das nun?«
»Dass Sie sich schon als Kind mehr zur Innenstadt hin orientiert haben. Oder dass Ihre Eltern die Mundart der Altstadt gesprochen haben und Sie sich eher von ihnen beeinflussen ließen als zum Beispiel von Ihren Klassenkameraden auf der Grundschule in Güls. Mit ›Bodder bei de Fesch‹ haben Sie genau das richtige Stichwort geliefert. Ich sammele solche Sprichwörter. Daran kann man einiges ablesen, wie Sie sehen.« Er lächelte zufrieden.
»Sollten wir das Sprichwort jetzt nicht mal beim Schopf packen?«, fragte Mike.
»Ein sehr mangelhaftes Sprachbild, das Sie da aufbauen!«
»Ich meine, ich wollte ja etwas über das Kaiserdenkmal erfahren.«
»Ja sicher.« Dr. Lange lehnte sich lächelnd zurück, und Mike musste einen Moment nachdenken. Das Gespräch über die Koblenzer Mundart hatte ihn etwas aus dem Konzept gebracht.
»Also, wie war das jetzt mit der Rekonstruktion des Denkmals? Ich erinnere mich, dass wir früher in der Schule viel darüber diskutiert haben, ob man den alten Kaiser überhaupt wieder auf seinen Sockel stellen soll.«
Dr. Lange winkte ab. »Das waren Scheingefechte, angeführt von irgendwelchen Berufsnörglern. Und, wie ich hinzufügen möchte: linken Berufsnörglern. Sie haben damals allen Ernstes behauptet, das Denkmal wieder hinzustellen hieße, sich mit den politischen Zielen Kaiser Wilhelms I. zu identifizieren. Das ist natürlich Blödsinn.«
Mike überlegte. »Moment – Kaiser Wilhelm I. ist der Kaiser, der auf dem Sockel steht.«
»Genau.«
»Und wer hat das Denkmal gebaut? Waren das nicht die Nazis oder so?«
Dr. Lange schrie plötzlich auf, und Mike zuckte vor Schreck zusammen. »Das darf doch nicht wahr sein! Herr Engel! Sie wissen ja überhaupt nichts! Das muss ich schon sagen. Wann haben Sie doch gleich Abitur gemacht?«
Mike spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Was hatte er denn gesagt, dass Dr. Lange plötzlich böse wurde? »Ich bin 1984 durchgefallen«, murmelte er.
»Offenbar zu Recht! Ich werde Ihnen jetzt mal was über das Kaiserdenkmal erklären. Schreiben Sie es sich hinter die Ohren! Von wegen Nazis. Das darf ja nicht wahr sein«, wiederholte er.
»Erklären Sie es mir«, sagte Mike und bemühte sich, seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen.
Dr. Lange nickte und sah eine Weile schweigend vor sich hin. Er schien einen Anfang zu suchen.
»Zunächst mal«, begann er, und seine Stimme war wieder ruhig, »Wilhelm I. wurde erst 1871 Kaiser. Auf Betreiben von Bismarck übrigens, nach einem gewonnenen Krieg gegen Dänemark, Bayern und Frankreich. Sicher kennen Sie das berühmte Gemälde, das die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles zeigt.«
Mike kannte das Bild nicht, sagte aber nichts. Er verstand den Zusammenhang nicht, aber er würde sich schon irgendwie ergeben.
»Lange bevor er Kaiser oder überhaupt preußischer König wurde, in den Jahren 1850 bis 1857, war Wilhelm Gouverneur der Rheinprovinz, deren Hauptstadt, na …?«
Mike stutzte. Dann ging ihm auf, dass Dr. Lange von ihm die Fortsetzung hören wollte. Ihm kam vage in den Sinn, dass ihm diese Art schon in der Schule auf die Nerven gegangen war.
»Die Hauptstadt der Rheinprovinz?«, fragte er. »War das Koblenz?«
»Ganz genau. Er und seine Frau Augusta haben Koblenz sehr geliebt. Nach der späteren Kaiserin Augusta wurden übrigens auch die Rheinanlagen benannt. Klar?«
»Klar. Die Kaiserin-Augusta-Anlagen.« Das sagte Mike etwas.
»1888 starb Wilhelm, und die Bürger der
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