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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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bedrohlich steil der Hang in die Tiefe führte. Wenn man hier einen falschen Schritt tat … Immerhin konnte man sich an verkrüppelten Bäumchen festhalten, die an der Kante wuchsen.
    Vor ihm lag wunderschön ausgebreitet das Moseltal. Auf der anderen Seite Güls – eine Ansammlung von Häusern mit zwei spitzen Kirchtürmen darin. Alle winzig klein. Unwillkürlich suchte Mike das Haus, in dem er damals gewohnt hatte. Es war gleich rechts neben der Kirche, eine Straße weiter oben. Das Fenster seines alten Zimmers war deutlich zu sehen. Einmal hatten sie hier oben gesessen und gesehen, wie seine Mutter gerade die Scheibe geputzt hatte …
    Er setzte sich an dieselbe felsige Stelle, an der er damals beschlossen hatte, das Geld zu holen.
    Das Geld. Gestern, als er von dem Restaurant in Güls aus hier heraufgeschaut hatte, war er auf die Idee gekommen, dass Carola das Geld hier oben versteckt haben könnte. Was hatte sie daraufhin gesagt? Er wusste es nicht mehr. Aber selbst wenn es so war – wo an diesem zugewachsenen Steilhang sollte er suchen? Der Koffer konnte ja schlecht hier irgendwo herumliegen. Wenn das Geld hier sein sollte, musste es eine Höhle oder so was geben. Aber wo sollte die sein? Er hatte früher oft genug von zu Hause aus mit dem Fernglas den Hang betrachtet. Eine Höhle war ihm nie aufgefallen.
    Die Häuser auf der anderen Seite der Mosel wurden langsam von den Schatten der hinter ihm untergehenden Sonne verschluckt. Mike ließ das Panorama eine Zeit lang auf sich wirken, dann tat sich dort unten etwas. Blinkend gingen nach und nach die Straßenlaternen an.
    Plötzlich spürte Mike, wie ihn Müdigkeit packte. Woran hatte er eben gedacht? Ach ja – Carola musste noch etwas anderes gewusst haben. Was fehlte, war die Verbindung zu dem Geld. Was hatte das Kaiserdenkmal mit den Dollars zu tun?
    Mike lehnte sich zurück an den Felsen, der noch die Wärme der Sonne gespeichert hatte. Es war angenehm, so zu dösen. Der Sommer duftete herrlich. Plötzlich hatte er das Gefühl, inmitten des warmen Zwielichts, das ihn umgab, zu schweben.
    »Ramann hatte das Kaiserdenkmal«, sagte Carola.
    Er hatte sie aus den Augenwinkeln gesehen und wandte ungläubig den Kopf. Da saß sie. Der Wind spielte mit ihren blonden Haaren. Sie war jung wie damals. Und sie wirkte traurig.
    »Unmöglich«, sagte er.
    »Warum?« Sie rückte etwas näher zu ihm, und ihm fiel ein, dass sie gar nicht da sein konnte. Der Grund dafür war ihm entfallen. Egal.
    »Auf dem Foto ist der Kopf«, sagte er. »Und der Kopf stand zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, auf einem Privatgrundstück.«
    »Aber das Foto zeigt das Denkmal. Die Reste.«
    »Hat es vielleicht noch eine Rekonstruktion gegeben?«
    Carola wandte den Blick wieder dem Moseltal zu und schwieg. Lange saß sie so da, dann schüttelte sie langsam den Kopf.
    »Mach’s nicht noch komplizierter. Auf dem Bild ist das echte Denkmal. Ramann hat das Foto gemacht, und es ist irgendwie nach Amerika gelangt.«
    »Weil Ramann Nairs Sohn war und ihn Anfang der Achtziger besucht hat.«
    Sie nickte nachdenklich. »Du hast schon viel rausgekriegt. Du weißt jetzt im Grunde so viel wie ich.«
    »Wo ist das echte Denkmal hingekommen?«, wollte Mike wissen.
    »Und wo ist das Geld?«
    Carola wandte sich zu ihm und sah Mike lange traurig an. Ihm ging ein Schauer über den Rücken.
    »Sie werden dich auch erschießen«, stellte sie fest. Es klang wie eine beiläufige Bemerkung.
    »Wer sind sie?«
    »Finde es heraus. Dann wirst du auch das Geld haben. Du wirst reich sein, Mike.«
    »Was habe ich davon, wenn man mich erschossen hat?«
    Sie schüttelte den Kopf. »So darfst du nicht denken. Fang an zu klettern, Mike. Es wird Zeit. Höchste Zeit.«
    Wieder passierte lange Zeit gar nichts, und er war sich nicht sicher, ob Carola überhaupt noch da war.
    Dann hörte er wieder ihre Stimme. Merkwürdigerweise war sie verschwunden. Der Platz am Abgrund war leer.
    »Mike?«, sagte sie.
    »Ja?«
    »Ich bin froh, dass wir wieder Freunde sind.«
    »Das hast du schon mal gesagt.«
    Wie lange war das her? Fragen lagen Mike auf der Zunge, aber er fühlte sich wie gelähmt. Carolas Gegenwart schien sich zu verflüchtigen. Jetzt hörte er sie wieder sprechen, diesmal viel leiser.
    »Ich habe es gesagt«, raunte sie. »Aber jetzt stimmt es.«
    In diesem Moment legte unten im Tal die Gülser Kirche mit ihren Glockenschlägen los, und er erwachte.

8

    Mike saß im Frühstücksraum des Mercure-Hotels, in dem er gestern

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