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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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genau zu sein.« Er steckte das Buch vorsichtig wieder an seinen Platz und setzte sich.
    »So, ich glaube, nun wären Sie für eine mündliche Abiturprüfung über das Thema gewappnet. Und jetzt lassen wir die alten Geschichten. Spielen Sie doch mal was Schönes am Klavier.«
    Er stand auf und hob einen der Notenstapel an, die auf dem Instrument lagen. »Worauf haben Sie Lust? Chopin, Liszt?«
    Mike schluckte. Er hatte seit Jahren nicht mehr richtig geübt, und im Grunde konnte er Dr. Lange nichts anderes bieten als seine Barschlager. Die waren hier jedoch fehl am Platz.
    »Vielleicht was Selbstkomponiertes?«, fragte Mike.
    »Sie komponieren auch? Da bin ich neugierig. Dann mal los.« Dr. Lange klappte den Deckel auf. Mike zog sein Büchlein hervor und blätterte darin.
    Nichts von dem, was er geschrieben hatte, war je fertig geworden. Es waren nur Ideen, Skizzen, ein paar Melodiefetzen. Manchmal setzte er sich ans Klavier und improvisierte, und dann hatte er das Gefühl, ein richtiges Stück zustande gebracht zu haben. Aber nie brachte er etwas Abgeschlossenes zu Papier.
    Er stellte das Heftchen auf den Notenhalter und wischte über die Tastatur. Hoffentlich kriegte er jetzt was Ordentliches hin. Er spürte, wie er schlagartig nervös wurde.
    »Wie heißt das Stück?«, fragte Dr. Lange.
    »Es hat noch keinen Namen.«
    Der alte Lehrer legte den Finger auf das Papier. »Was sind das denn für Zahlen? Sieht aus wie ein Generalbass.«
    »Nein, das ist etwas anderes.«
    »Kürzel für die Harmonik?«
    »Auch nicht.«
    »Erklären Sie es mir.«
    »Ehrlich gesagt, es sind Telefonnummern.«
    Dr. Lange lehnte sich zurück. »Sie verwandeln Telefonnummern in Musik? Ist das so eine ähnliche Methode wie die Zwölftontechnik?«
    »Nein, nein, darum geht es nicht. Es müssen auch keine Telefonnummern sein. Ich kann aus jeder Ziffernfolge eine Melodie machen. Als ich das entwickelt habe, gab es die Tonwahl am Telefon noch gar nicht.«
    »Und wie geht das?«
    »Jede Zahl steht für eine Note in der Tonleiter einer bestimmten Tonart. Gehen wir mal davon aus, das Stück steht in C-Dur.«
    »Ist ja auch am einfachsten.« Dr. Lange lächelte.
    »Genau. Der Grundton C wäre die 1, der zweite Ton D die 2 und so weiter. Das geht dann rauf bis zur Oktave, das wäre die 8. Die 9 wäre die None, also das D eine Oktave höher.«
    »Und die Null?«
    »Die wird ausgelassen«, sagte Mike. »Das System ist mathematisch nicht konsequent und lässt viel Spielraum. Man kann ja sowieso noch viel ändern. An der Harmonik und am Rhythmus. Außerdem kann man Töne wiederholen.«
    »Aber was bringt Ihnen das dann?«
    Mike zuckte mit den Schultern. »Ein geistiges Sprungbrett für eingängige Melodien. Ich kann sie quasi aus dem Ärmel schütteln. Da, wo ich spiele, ist so was gefragt.«
    Dr. Lange sah ihn prüfend an. Offenbar entdeckte er erst jetzt Mikes weißen Anzug. »So, so, da, wo Sie spielen.« Er kratzte sich am Kopf. »Dann zeigen Sie mal, was Ihre klingenden Telefonnummern wert sind.«
    Mike fixierte das Notenheft und begann mit der linken Hand im Tenorbereich ein paar Noten zu spielen. Dann ließ er die Melodie in die Rechte wandern und fügte mit der Linken ein paar Akkorde hinzu. Als er das Motiv wiederholte, fand er automatisch neue Schattierungen in der Harmonik. Aus einer Wendung, die ihm plötzlich in die Finger kam, machte er einen netten Mittelteil; die Finger spielten von ganz allein weiter. Plötzlich bemerkte Mike, dass er Mittelteil und Hauptmelodie miteinander kombinieren konnte. Unten grummelte der Hauptgedanke, oben ließ er das andere Motiv wie in einem munteren Gespräch antworten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Dr. Lange lächelte, und das beflügelte ihn, die Fäden weiterzuspinnen.
    Bis auf einmal Lärm von draußen hereindrang, die Tür aufgerissen wurde und Jürgen Lange im engen Zimmer stand.
    »Was ist denn hier für ein Krach! Alter, ich hab dir schon tausendmal gesagt …«
    Mike brach ab und starrte Jürgen an. Der hatte wohl keinen Besuch im Zimmer des Vaters erwartet, fing sich aber sofort und grinste breit. Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Ein Grinsen. Ein so breiter Mund, dass Jürgen ohne weiteres mit einer Zigarette auf den Lippen ein Referat halten konnte. Er hatte das sogar mal getan. Der Lehrer, der dagegen protestierte, musste klein beigeben, als Jürgen sagte, man könne ihm zwar verbieten, die Zigarette anzumachen, nicht aber, sie kalt im

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