Schängels Schatten
verkiehrt säin‹, sagen die Koblenzer.«
»Wie kommen Sie eigentlich jetzt auf Wenzeslaus?«, fragte Mike.
»Eine weitere Persönlichkeit der Koblenzer Stadtgeschichte, Herr Engel.« Dr. Langes Stimme war tadelnd.
»Ich habe einen Maler kennen gelernt, der Wenzeslaus heißt. Er wohnt in Neuwied … Es war aber sein Künstlername.«
»Möglich«, sagte der Lehrer. »Ich meine jedenfalls den Kurfürsten, der Koblenz das Theater, das Schloss und vieles andere gebracht hat.«
Mike nickte. »Gut. Zurück zum Denkmal. Man hat sich also durchgerungen, es sozusagen zu reparieren.«
»Man hat den Kaiser völlig neu anfertigen lassen und ihn nach ein paar politischen Querelen 1993 endlich wieder an seinen Platz gestellt. Fazit: Jetzt ist Koblenz um eine Attraktion reicher, und keinen Menschen juckt mehr die Diskussion, ob man ihn besser nicht aufgestellt hätte.«
»Was ist denn aus dem echten Kaiser geworden? Auf den alten Fotos hängt er zwar kopfüber an der Seite, aber so kaputt sieht er gar nicht aus.«
»Auch darüber gibt es massenhaft Theorien. Aber niemand weiß es genau. Er hat wohl etwa ein Jahr da gehangen, dann ist er abtransportiert worden. Und verschwunden.«
»Einfach so?«
»Es waren die ersten Monate nach dem Krieg. Da hatten die Leute andere Sorgen. Zum Beispiel fehlten Rohstoffe. Man nimmt an, dass das Metall zu Straßenbahnoberleitungen verarbeitet wurde. Es gab deswegen in Koblenz sogar ein geflügeltes Wort. Man sagte, der Kaiser sei das längste Denkmal der Welt. Wie dem auch sei: Das Original ist verschwunden. Eigentlich eigenartig. Wenn die Amerikaner den Symbolgehalt des Denkmals wirklich bedacht hatten, als sie es abschossen, dann hätten sie das Ding mitnehmen sollen. Eine bessere Kriegstrophäe gibt’s gar nicht. Es ist eines der größten Reiterstandbilder der Welt.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich. Und der Rest ist Nachkriegsgeschichte, die Sie sicher kennen. 1954 machte man aus dem Sockel das Mahnmal der deutschen Einheit. Das hieß: Man stellte eine Flagge drauf und hielt an der Stelle feierliche Gelöbnisse der Bundeswehr ab. Da fällt mir noch was ein. Wussten Sie eigentlich, dass Anfang der Achtziger mal jemand die Flagge geklaut und eine andere stattdessen gehisst hat?«
»Ich habe davon gehört«, sagte Mike schnell. »Und sonst ist nichts mehr davon aufgetaucht? Von dem Kaiser, meine ich.«
»Doch. Eigentlich sogar das Wichtigste.«
»Was denn?«
»Der Kopf.«
Mike war verblüfft. »Der Kopf?«
»Ein Privatmann hat ihn in seinem Besitz gehabt. Irgendwann ist das rausgekommen. Heute steht er im Mittelrhein-Museum.«
»Wie kommt das denn, dass ausgerechnet der Kopf aufgetaucht ist, der Rest aber nicht?«
Dr. Lange zuckte mit den Schultern. »Jemand wird ihn damals als Souvenir mitgenommen haben.«
»Meinen Sie nicht, dass dieser Privatmann auch den Rest hat?«
»Das ist ausgeschlossen. Wenn jemand heute mit dem ganzen original Kaiser ankäme, dann wäre das eine absolute Sensation. Wenn dieser Privatmann den Rest hätte, hätte er es längst gesagt.«
»Vielleicht wollte er den Rest nicht auch noch abgenommen bekommen.«
»Man hat ihn ihm nicht weggenommen. Der Kopf ist offiziell immer noch in seinem Besitz. Wenn er das ganze Denkmal hätte, wüsste man es. Ganz sicher.« Dr. Lange schaute fragend. »Ist Ihnen ein Teil davon begegnet?«
Nein, mir ist das ganze Ding begegnet, dachte Mike und wusste jetzt, an welcher Sensation Carola dran gewesen war. Sie hatte nicht übertrieben, als sie von einer Riesenstory sprach.
»Wie lange ist der Kopf denn schon im Mittelrhein-Museum?«, fragte Mike.
»Du meine Güte, Sie wollen es aber genau wissen.« Dr. Lange stand auf und fing an, in seinen Stapeln zu suchen. »Das müsste ich nachsehen. Ich glaube, seit Anfang der achtziger Jahre.«
»1982 vielleicht?«
Dr. Lange zog einen schmalen Band aus einem der Hängeregale und hätte dabei beinahe einen Turm von Papieren zum Einsturz gebracht.
»Gleich hab ich’s.« Er blätterte. »Hier. 1983 war das. Bis dahin hat der Kopf als Schmuck in einem privaten Garten gestanden. Angeblich neben dem Swimmingpool. Die Leute haben Geschmack. Und hier steht noch: Es war die Witwe des Besitzers, die dafür sorgte, dass das Ding ins Museum kam. Sehr interessante Jahreszahl übrigens.«
»Wieso?«
»Na ja, es geht alles im Zehn-Jahres-Rhythmus. ’83 kam der Kopf ins Museum, ’93 kam die Rekonstruktion auf den Sockel, und das ist bald auch wieder zehn Jahre her. Im September, um
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