Schängels Schatten
Abend noch eingecheckt hatte. Der Bericht über den Mord an Carola stand gleich auf der Titelseite der Rhein-Zeitung. Was er gestern nur gemutmaßt und was ihn noch im Hotelzimmer bis in den Halbschlaf verfolgt hatte, war der Verdacht, dass die beiden Morde zusammenhingen. Nun bekam er auf dem Silbertablett die Bestätigung serviert. Carola war mit einer Waffe desselben Typs erschossen worden wie damals Ramann.
Mike starrte auf seinen Frühstücksteller, wo eine angebissene, mit Margarine und Nutella bestrichene Brötchenhälfte lag. Ihm war der Appetit vergangen.
Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte Mike noch überlegt, was er tun sollte. Jetzt hatte er plötzlich eine Idee, und er wunderte sich, warum er nicht schon früher darauf gekommen war.
Er ließ das halbe Brötchen liegen und fuhr mit dem Aufzug in die achte Etage, wo sein Zimmer lag. Es war dämmrig darin. Er hatte den Raum verlassen, ohne die Vorhänge zurückzuziehen. Als Mike das jetzt nachholte, ging sein Blick über das kurfürstliche Schloss bis hinüber zur Festung. Die Sonne ließ den Rhein glitzern. Ein weißes Ausflugsschiff bahnte sich gemächlich seinen Weg zur Moselmündung und zog eine schaumige Spur hinter sich her. Mike sah eine Weile aus dem Fenster und dachte nach.
Besser wäre es natürlich, gleich mit ihm persönlich zu sprechen. Aber er hatte keine Telefonnummer. Außerdem musste es in Los Angeles jetzt mitten in der Nacht sein. Wenn Mike eine Mail schickte, würde es also Stunden dauern, bis er eine Antwort bekam. Falls sich dieser Nair überhaupt meldete. Ob Carola mit ihm Kontakt aufgenommen hatte?
Er musste es versuchen. Wer sonst konnte ihm sagen, wie das Bild von den Kaiserüberresten auf die Website kam? Und wo sich diese Überreste heute befanden? Und warum jemand, der danach suchte, ermordet wurde?
Er nahm den Ausdruck aus der Internetseite. Ganz am Ende stand Nairs E-Mail-Adresse.
Mike griff zum Telefon neben dem Bett und rief die Rezeption an. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Hier ist Engel, Zimmer 834. Ich würde gern eine E-Mail verschicken. Geht das von hier aus?«
»Ja, sicher, Herr Engel. Wir haben ein Internet-Terminal hier unten in der Lobby. Kommen Sie einfach herunter, ich helfe Ihnen gern weiter.«
Zwei Minuten später stand Mike an der Rezeption einer jungen Frau gegenüber. Ein Namensschild an ihrer Bluse zeigte, dass sie Iris Mayer hieß. Sie erklärte ihm, wie er mit dem Mailprogramm umgehen musste. Mike erkundigte sich nach der Telefonnummer des Hotels. Dann schrieb er Nair eine Mitteilung in wenigen Zeilen: dass er Informationen über das letzte Foto auf Nairs Website brauche. Dass es sehr dringend sei. Und dass Nair ihn doch bitte im Hotel anrufen solle. Mike fragte sich, ob das Ganze vielleicht noch wirkungsvoller wäre, wenn er sich als Journalist ausgab. Er ließ es bleiben und klickte auf »Senden«.
Was konnte er jetzt tun? Nichts. Oder sich weiter über die Geschichte des Denkmals schlau machen. Er konnte zum Beispiel ins Mittelrhein-Museum gehen und den Kopf besichtigen.
Mike spazierte über die Auffahrt des Hotels hinunter zur Rhein-Mosel-Halle, wo der Schalenbrunnen plätscherte. Langsam aber sicher wurde es schwül. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Jemand kam die Treppe vom Hotel herunter. Es war Iris Mayer, strahlend lächelnd.
»Herr Engel«, sagte sie. »Gut, dass ich Sie treffe. Sie haben einen Anruf bekommen.«
Das ging aber schnell, dachte Mike. »Von einem Mr. Nair?«, fragte er.
»Nein. Es war eine Frau Hoffmann. Sie bittet um Rückruf.«
»Und deswegen sind Sie extra hier runtergekommen? Woher wussten Sie denn, wo Sie mich finden?«, fragte Mike.
»Purer Zufall. Ich muss kurz in die Stadt. Eine Besorgung machen.«
Mike bedankte sich, und sie ging weiter. Es war so heiß, dass er schon auf dem kurzen Stück zurück zum Hotel ins Schwitzen kam. An der Rezeption fragte er nach einem Telefon. Er brauchte nicht auf den kleinen gelben Block zu schauen, den er noch immer in der Hosentasche hatte. Es reichte, an die Melodie zu denken, und schon hatte er die Telefonnummer im Kopf.
»Hoffmann.«
»Michael Engel hier.«
»Ach, hallo! Schön, dass Sie so schnell zurückrufen.«
»Was gibt’s denn?«
»Das stimmt ja tatsächlich mit Carola.«
»Haben Sie daran gezweifelt?«
»Ehrlich gesagt – als Sie gestern zu mir kamen, habe ich es kaum glauben können. Ich verstehe das alles nicht. Wer kann so was tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie seufzte. »Sie
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