Schängels Schatten
er auf und ab; irgendwann näherten sich Schritte.
»Was kann ich denn für Sie tun?«, fragte eine Stimme freundlich. Mike drehte sich um und sah in das Gesicht des Mannes.
»Ich wollte noch mal eine Zeitung einsehen«, sagte Mike. »Haben Sie noch lange genug auf?«
Der Mann lächelte. »Bis fünf. Und so lange können Sie auch Zeitung lesen. Was soll’s denn sein?«
»Der Schängel von 1982. April bis Juli. Ich war ja neulich schon mal da und habe die Rhein-Zeitung aus der Zeit angesehen. Ich hatte allerdings völlig vergessen, dass es ja auch den Schängel gibt.«
Der Archivar nickte. »Ich schau mal nach«, sagte er und ging nach hinten.
Dass er darauf nicht gekommen war! Der Schängel war ein wöchentlich erscheinendes kostenloses Anzeigenblatt, in dem neben all den als Artikel getarnten Werbetexten über Geschäftseröffnungen und Sonderangebote auch redaktionelle Beiträge mit Tageszeitungsniveau zu finden waren. Mike zwang sich, ruhig zu bleiben. Vielleicht war Anita dieser Spur ja noch nicht nachgegangen. Wenn alles gut lief, hatte er in ein paar Minuten den entscheidenden Hinweis in den Händen, der ihm sagte, wo das Geld war. Damit hätte er zumindest eines der vielen Rätsel gelöst …
»Das ist aber komisch«, sagte der Mann plötzlich. Mike war so in Gedanken gewesen, dass er seine Rückkehr nicht bemerkt hatte.
»Was ist?«
»Meine Kollegin sagt, dass hier jemand sitzt und den Film gerade einsieht. Es ist aber niemand da.«
Mike sah sich um. Eines der Lesegeräte war noch eingeschaltet. Daneben lag ein würfelförmiger weißer Karton. Der Archivar nahm ihn und sah sich die Beschriftung an.
»Haben Sie jemanden rausgehen sehen?«, fragte er.
Mike schüttelte den Kopf.
»Ich muss das überprüfen.« Damit verschwand er wieder.
Mike spürte, wie sich sein Herzschlag weiter beschleunigte. Wieder ging er auf und ab.
Nach einer Weile kam der Archivar mit einer Kollegin zurück.
»Aber ich sage Ihnen doch. Der Film ist ausgeliehen. Hier ist der Leihzettel.« Sie gab ihrem Kollegen eines der Formulare, das Mike auch hatte ausfüllen müssen.
»War es eine Frau?«, fragte Mike.
Die Archivarin nickte. »Sie war ziemlich ungeduldig. Sie hat schon unten gewartet, als ich um zwei aufgeschlossen habe.«
»Darf ich den Zettel mal sehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten nahm er das Blatt. »Angelika Müller« hatte jemand eingetragen und als Adresse Beatusstraße 32 angegeben.
»Wie sah die Frau aus?«
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte der Archivar.
»Ich glaube, ich kenne sie. Der Name und die Adresse hier auf dem Blatt sind falsch.«
»Wie bitte?«, fragte die Archivarin.
»Also, wie sah sie aus?«
»Wenn Sie sie kennen, müssen Sie es ja wissen.«
»Um die vierzig, rötliche gelockte Haare, schlank, keine Brille, unter Umständen leuchtend roter Lippenstift …«
»Stimmt«, sagte die Archivarin. »Und sie heißt nicht Müller?«
»Nein. Ich erkläre Ihnen alles. Aber ich müsste jetzt mal in die Schängel-Ausgaben sehen. Haben Sie einen Ersatzfilm?«
»Wir haben was Besseres.«
»Was denn?«, fragte Mike.
»Die Originale.«
Während die Zeitungen geholt wurden, musste Mike wieder warten. Das Formular, auf dem Anita die falschen Angaben gemacht hatte, lag unbeaufsichtigt auf dem kleinen Tisch. Mike wühlte in seinen Hosentaschen und förderte einen Zettel zutage – die Notiz, die auf dem Wanderparkplatz Eiserne Hand unter dem Scheibenwischer gesteckt hatte. Mike hielt den Zettel daneben. Er hätte es sich denken können. Dieselbe Schrift. In beiden Fällen waren es zwar Blockbuchstaben, aber man sah sofort die Ähnlichkeit. Anita hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihre Handschrift zu verstellen.
Mike dachte nach. Wenn sie ihn geschrieben hatte, dann hatte sie ihn zum Parkplatz Oberwerth gelockt.
Und der Stadtplan, der in Carolas Auto gelegen hatte? Nickenich hatte ihn deswegen glattweg ausgelacht. Die Spurensicherung hätte diesen Plan garantiert gefunden. Wenn er schon bei Carolas Tod da gewesen wäre. Also hatte Anita ihn bei ihrem gemeinsamen Besuch am Burgweg sauber deponiert. Und in einem unbeaufsichtigten Moment das Kaisersymbol hineingezeichnet. Mike erinnerte sich, wie er auf Anita oben am Hohlweg gewartet hatte …
Wenn das alles stimmte, hatte sie auch gewusst, dass auf ihn geschossen werden würde.
Und nicht nur das, dachte Mike.
Sie hatte auf ihn geschossen!
Und alles, was vorher passiert war, waren Versuche gewesen, ihn in die Falle zu locken.
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