Schärfentiefe
keine Bücher mehr, aber vielleicht haben wir es noch irgendwo gespeichert. Dann schicke ich Ihnen das PDF. Ist das ausreichend?“
„Eigentlich interessiert mich nur der Beitrag über Stefan Urban. Vor allem die Fotos. Haben Sie die noch?“
„Wie lautet Ihre E-Mail-Adresse?“
Paula gab sie der Frau durch und wunderte sich wieder einmal, wie einfach es doch war, an Informationen heranzukommen.
„Ich will Ihnen nichts versprechen, aber vielleicht finden wir etwas. Dann gebe ich Ihnen Bescheid.“
Paula bedankte sich sehr herzlich. Das Projekt lag über ein Jahr zurück. Wahrscheinlich war es längst in den Tiefen eineselektronischen Ordners verschwunden. Unwahrscheinlich, dass sich jemand die Mühe machen und Zeit opfern würde, um dieses Projekt für sie auszugraben.
Was vielleicht auch besser war. Denn eigentlich wollte sie nicht wieder in eine Geschichte hineingezogen werden, die ihr Unannehmlichkeiten brachte. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass sie sich bereits mittendrin befand.
2.
Am Nachmittag kam endlich der von ihr heiß ersehnte Anruf von Markus. Er entschuldigte sich, dass er sich nicht früher gemeldet hatte, aber so sei sein Job nun mal, ein Termin jage den anderen bis spät in die Nacht hinein.
„Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend eine Theateraufführung ansehen? Ein paar Leute haben eine Künstlerinitiative ins Leben gerufen. Um acht ist Premiere. Apropos Künstler: In Sachen Urban kann ich dir auch Neuigkeiten erzählen. Es hat da einige anonyme Hinweise gegeben, denen die Polizei nun nachgehen muss.“
„Aber ich dachte, die Untersuchungen waren schon abgeschlossen und sie hätten nichts Verdächtiges festgestellt?“
„Haben sie ja auch nicht. Aber etwas eigenartig ist es ja doch, dass der Mann da alleine einen Spaziergang am Donauufer macht und dann einfach so ins Wasser fällt. Noch dazu … ach, du gute Güte. Entschuldige, ich muss jetzt aufhören, da ist gerade eine Meldung hereingekommen. Bis dann.“ Und schon war er aus der Leitung.
Kurz beschäftigte sie der Gedanke, was Markus ihr über Urban erzählen wollte. Sie durfte nicht vergessen, ihn danach zu fragen. Doch bald gewannen die romantischen Gefühle die Oberhand und sie verbrachte den Rest des Nachmittags damit, eine perfekte Kleiderkombination zu finden. Sie genoss dieses Hochgefühl, dieses Pulsieren in den Adern bei der Vorstellung, Markus nahe zu sein. Heute Nacht war die Nacht. Da war sie sich ganz sicher. Im Hintergrund sang der italienische Liedermacher Fabio Concato seine melancholisch-romantischen Balladen. Davon, dass er die Welt mit den Augen seiner Liebsten sehen, dass er so wie sie lachen, lieben, weinen und schreien möchte. Die Kratzer und das Rauschen der alten Vinylschallplatte ignorierte Paula, die laut und falsch mitsang. Kurt war die nächsten Tage nicht da und überhaupt: Bei ihr war Ausnahmezustand. Sie war schon lange nicht mehr so verliebt gewesen.
Das Theaterstück hatte schon begonnen, als sie ankamen. Paula gab es nach kurzer Zeit auf, den Inhalt des Stücks verstehen zu wollen, falls es überhaupt einen gab. Ihre Blicke wanderten von der – bis auf einen Sessel völlig leeren – Bühne ins Publikum. Was sie sah, kam ihr wie ein Déjà-vu-Erlebnis jenes Nachmittags vor, als sie an den Grüppchen vor dem Institut für künstlerische Fotografie vorbeigeschlendert war. Auch hier trugen fast alle Schwarz. Es gab eine auffällige Häufung rechteckiger Brillen mit dunklem Rand, asymmetrischer Haarschnitte und ausgefallener Accessoires wie übergroße Ringe. Die Wortkonstruktionen der Schauspieler nahm sie nur verschwommen wahr, zumal Paula sie nicht verstand. Aber das war alles egal, in Anbetracht des Umstands, dass Markus’ Hand die ihre umschloss und ein wohliges Gefühl von ihr Besitz ergriffen hatte, das sie ohnehin den Rest der Welt vergessen ließ.
Sie sah ihn von der Seite an, doch er tat, als würde das Stück seine ganze Aufmerksamkeit erfordern. Einige Sitze hinter Markus saß eine junge Frau, die Paula bekannt vorkam. Sie grübelte, wo sie das Gesicht hintun sollte und dann fiel es ihr ein: Die Besucherin hatte große Ähnlichkeit mit jener Frau, die neben Urban auf dem Foto abgebildet war, das die Znan ihr gezeigt hatte. Konnte es sein, dass hier, nur wenige Sitzplätze von ihr entfernt, jene Gerlinde Wagner saß? Paula warf immer wieder einen Blick auf die junge Frau.
Ein Schubs von Markus erinnerte sie daran, dass sie glotzte. Die Aufführung
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