Schärfentiefe
es gar nicht so schlimm sein, wenn sie einmal Silvester allein feierte oder verschlief. Einen Versuch war es wert.
Das Landtmann lag an der Ringstraße, vis-à-vis vom Rathaus, neben dem Burgtheater. Siebenundzwanzig große Kaffeehäuser hatte es im vorigen Jahrhundert entlang der Wiener Ringstraße gegeben, das Landtmann zählte zu den wenigen, die übrig geblieben waren.
Ein Oberkellner im schwarzen Dreiteiler begrüßte sie. Die meisten Tische im großen Saal waren um diese Zeit bereits besetzt. Kännchen mit Kaffee oder Tee standen darauf, viele Köpfe blieben hinter Zeitungen versteckt. Von Zeit zu Zeit kam Bewegung ins Papier, es wurde neu gefaltet, ein Schluck Kaffee oder Tee getrunken, und dann verschwand die Person wieder hinter der knisternden Wand. An einigen Tischen saßen mehrere Personen, die sich mit gedämpften Stimmen unterhielten.
Die Ober schwebten durch den Raum, nahmen mit einer Verbeugung das geleerte Geschirr oder halb volle Aschenbecher von den Tischen und brachten ebenfalls mit einer Verbeugung Nachschub. Mit Argusaugen wachten sie über den Pegel in den Tassen. Weibliches Servicepersonal gab es keines: Das Landtmann war ein traditionelles Kaffeehaus, in dem nur Männer bedienten. Ausgenommen die Garderoben- und die Klofrau.
Bis um 1900 waren die Konditoreien Treffpunkte weiblicher Naschkatzen gewesen, und dort war auch die Bedienung weiblich. Kaffeehäuser waren bis zu jenem Zeitpunkt bessere Lasterhöhlen, die nur von Männern besucht wurden und in denen auch nur Männer bedienten. Die Lasterhöhle im Landtmann gehörte längst der Vergangenheit an, aber die Enklave der Ober hatte sich erhalten.
Paula bestellte einen Cappuccino und eine Semmel mit Butter.
Kurz nach zehn Uhr betrat Brigitte Znan das Kaffeehaus, gekleidet in einen langen dunkelbraunen Nerzmantel, den sie bei der Garderobiere abgab. Sie sah viel gepflegter aus als beimletzten Treffen. Ihre Haut erschien nicht so fahl, was vielleicht an dem dick aufgetragenen Make-up lag. Die Haare hatte sie diesmal locker aufgesteckt, und das rote Kostüm stand ihr ausgezeichnet. Sie setzte sich Paula gegenüber an den Tisch.
„Was darf ich Ihnen bringen, gnädige Frau?“
Der Kellner wischte mit einer eleganten Handbewegung einen nicht vorhandenen Krümel vom Tisch und rückte den Aschenbecher zurecht.
Sie bestellte ein Kännchen Tee.
Nachdem der Kellner mit einem „Sehr wohl“ und einer kleinen Verbeugung entschwunden war, begann sie in der Tasche zu kramen und legte einige Papiere und Fotografien auf den Tisch.
„Hier habe ich noch einige Unterlagen für Ihre Biografie. Vielleicht können Sie etwas davon verwenden.“
Paula warf einen Blick darauf. Der Artikel aus der Jubiläumsbroschüre war dabei und das Foto, auf dem Urban, Znan und Wagner abgebildet waren, hatte sie ebenfalls mitgebracht. Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel?
„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Bei meinem ersten Besuch hatte ich den Eindruck, dass es Ihnen nicht recht wäre, dass ich die Jubiläumsbroschüre ansehe“, sagte Paula vorsichtig.
„Das mag schon sein. Wissen Sie, es ist in der Zwischenzeit einiges bei mir passiert …“
Vielleicht ein neuer Mann?, dachte Paula, was die blühende Erscheinung ihres Gegenübers erklären würde.
„… Sie müssen wissen, der Tod von Stefan Urban hat mich sehr getroffen, und dann waren da noch andere Dinge, mit denen ich erst einmal klarkommen musste.“
„Sie meinen sicher den Umstand, dass Herr Urban ein Doppelleben geführt hat?“
Znan sah Paula verunsichert an.
„Wie meinen Sie das?“
Der Kellner brachte den Tee.
„Sonst noch einen Wunsch die Damen?“
Beide schüttelten den Kopf.
Diesmal war es Paula, die in der Tasche kramte und Unterlagen auf den Tisch legte. Sie schob die Papiere zu Znan hin. Die warf nur einen kurzen Blick darauf, und die Farbe ihres Gesichts nahm trotz des dick aufgetragenen Make-ups eine rötliche Färbung an.
„Woher haben Sie die?“, fragte sie betroffen.
„Ich nehme an, Sie kennen das Fotostudio von Stefan Urban? Zumindest weiß ich, dass Sie einen Schlüssel dazu haben. Nun, ich war auch dort und habe mich ein wenig umgesehen und da fand ich diese Briefe.“ Paula hätte sich auf die Zunge beißen können. Nun hatte sie sich verraten.
„Ach, Sie waren das, die dort so eine Unordnung gemacht hat?“, fragte die Znan ungläubig.
Paula blickte sie irritiert an. „Wieso Unordnung? Bis auf das Chaos, das dort ohnehin schon herrschte, haben wir dort
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