Schärfentiefe
Empfangsdame Dienst wie am Vortag. Paula war auf alles gefasst. Auch, dass sie ihr sagen würde, dass Krein nicht gestört werden wolle und sie ersuche, unverzüglich zu gehen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Dame zwinkerte ihr freundlich zu und griff zum Telefonhörer.
„Ihr Besuch ist da. Wo möchten Sie mit der Dame sprechen?“
Anscheinend hatte sie Krein am Apparat.
„Herr Krein bittet Sie, in sein Appartement zu kommen: erster Stock, Tür 102.“
Paula dankte und stieg die Treppe hinauf. Auf dem schmiedeeisernen Geländer war kein Staubkorn zu sehen, an den Wänden hingen schöne Stiche vom alten Wien, und es standen mehrere Behälter mit Pflanzen auf dem Gang.
Sie klopfte an. Krein öffnete ihr und bat sie herein. Er führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Das Fenster ging hinaus auf den Park. Er bot ihr einen Platz am Wohnzimmertisch an, auf dem Paulas Papiere lagen.
„Möchten Sie Limonade?“, fragte er, und Paula nahm das Angebot dankend an.
„Ich war sehr von den Ergebnissen Ihrer Recherchen beeindruckt“, begann er und legte seine Hand auf den Papierstapel.
„Ich hätte mir nicht gedacht, dass Sie so rasch herausfinden würden, dass Elsa Tin meine Schwester war. Und auch die anderen Geschichten habe ich mit Spannung gelesen. Aber ich nehme an, Sie sind nicht hier, um sich von mir Komplimente anzuhören.“
Paula überlegte kurz, wie sie beginnen sollte. Dann beschloss sie, einfach bei der Wahrheit zu bleiben.
„Wie Sie wissen, habe ich den Auftrag, eine Biografie über Stefan Urban zu schreiben. Bei meinen Recherchen habe ich dann bald entdeckt, dass er nicht die Person ist, für die ihn alle gehalten haben. Um es kurz zu machen: Ich möchte nicht, dass diese Biografie zu seinen Ehren geschrieben wird, dazu muss ich aber meinem Auftraggeber hieb- und stichfeste Argumente liefern.“
„Wenn ich mir das, was Sie da geschrieben haben, durchlese, so meine ich, dass diese Ergebnisse ausreichend sein sollten“, erklärte Krein spitz, setzte dann aber gutmütig fort: „Ich nehme an, dass Sie sich für die ganze Geschichte meiner Schwester interessieren. Auch für das, worüber in den Medien nie berichtet wurde. Ich habe viele Jahre mit den Erinnerungen gelebt, die ich mit niemandem teilen konnte, und sehne mich danach, endlich jemandem alles erzählen zu können. Vielleicht hilft es mir, den Rest meines Lebens in Frieden ausklingen zu lassen.“
Er schenkte Limonade nach, erhob sich und holte einen der Bilderrahmen, die auf einer Kommode standen. Das Foto darin zeigte die beiden Geschwister in jungen Jahren.
„Elsa war um drei Jahre älter als ich, und als unsere Mutter starb – ich war damals gerade dreizehn Jahre alt –, nahm sie bei mir deren Stelle ein. Sie kümmerte sich um mich, half mir in der Schule und durch die Pubertät und war meine beste Freundin. Auch als sie immer berühmter wurde und viel auf Reisen war, blieben wir unzertrennlich. Ich selbst war musisch leider nicht sehr begabt, dafür war ich praktisch veranlagt und konnte gut mit Geld umgehen. Es war naheliegend, dass ich ihr Agent und Finanzberater wurde. Ich kümmerte mich um alle finanziellen Angelegenheiten, um die Organisation der Tourneen, führte Gespräche mit Veranstaltern und betreute die Presse. Dabei lernte ich eines Tages auch den Fotografen Urban kennen.“
Er nahm einen Schluck Limonade und starrte auf das Foto.
„Anders gesprochen: Wenn ich nicht gewesen wäre, hättemeine Schwester ihn vielleicht niemals kennengelernt und wäre heute noch am Leben. Aber so war es nun einmal. Urban machte mehrere Fotoserien von Elsa, und wir freundeten uns an. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, angelten oder spielten Tennis. Eine Zeit lang war er hinter meiner Schwester her, aber sie machte ihm rasch klar, dass er sie nicht interessierte und dass sie sich bereits an jemand anderen gebunden fühlte. Er schien die Abfuhr nicht tragisch zu nehmen, denn wir trafen uns weiterhin bei zahlreichen Gelegenheiten und Elsa gegenüber benahm er sich immer wie ein Gentleman.“
Das Telefon klingelte. Krein stand auf und hob ab.
„Möchten Sie Kaffee oder Tee?“, fragte er Paula.
Sie verneinte. Krein gab die Antwort weiter, bedankte sich und legte auf.
„Das war die Rezeption. Das Personal ist hier sehr zuvorkommend. Wo war ich stehen geblieben?“
„Urban benahm sich immer wie ein Gentleman …“
„Richtig. Wie gesagt, wir unternahmen viel gemeinsam und bewegten uns gesellschaftlich in ähnlichen Kreisen.
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