Schafkopf
Nachts war der Ort auch noch unheimlich, diese Schlucht im Wald. Halbwüchsige zog das manchmal an. Um ihren Mut zu beweisen. Sich auszutoben. Sie richteten allerdings auch kaum Schaden an, es war eher der Ärger, den Johann Dinder hatte, wenn er die Läden der Schankbude reparieren musste. Zur Polizei ging er in solchen Fällen nicht. Das gäbe ja noch mehr Ärger. Und die Burschen, die nachts hier so mutig waren, bereuten das doch ohnehin schon am nächsten Tag. Hatten nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern obendrein auch noch Angst. Angst davor, vielleicht doch noch erwischt zu werden. Die taten das ein Mal und dann nie wieder. Warum sich deshalb also Ärger machen.
»Sch …, ja leck!« Er hatte es gewusst, irgendwie. Die Tür des Kellers war aufgebrochen. Sie stand nur angelehnt, der schwere Riegel verbogen. Johann hatte es sofort gesehen, als er nach der letzten Stufe um die Ecke kam. Er blieb stehen, verharrte, lauschte. Droben im Geäst weiterhin der laute Buchfink, ein zweiter antwortete weiter hinten im Wald. Ein Rotkehlchen nicht weniger laut irgendwo im Zwischengeschoss der Bäume, eine schillernde Libelle brummte vorbei, dann das Schleuderbrummen einer dicken Fliege. Sonst nichts. Noch einmal die dicke Fliege. An manchen Stellen sickerte die Sonne bis auf den Waldboden und warf helle Flecken. Ein loser Spinnfaden schwebte vorbei. Wie laut Atmen sein konnte! Ob da noch jemand drinnen war? Er glaubte es eigentlich nicht. Auf der Parkplatzwiese hatte kein Auto gestanden, auch nicht auf dem Weg hier herunter. Zumindest hatte er keines bemerkt. Den Riegel würde er abbauen müssen und damit zum Schmied. Der ist viel zu massiv, den biege ich selber nicht gerade, dachte er. Er öffnete die Tür zum Keller. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Er drehte das Licht an.
So schnell, so abrupt hatte Johann Dinder in seinem ganzen Leben noch nicht gekotzt. Er brauchte nur einen Blick, dann drehte er sich weg, krümmte sich und spie mitten auf den Platz, zwischen Schankbude und Keller. Das gute Frühstück. Und noch mal und noch mal, bis nichts mehr kam. So eine Sauerei. Auch das würde er jetzt wieder wegmachen müssen. Johann Dinder wankte hinüber zu einer der Bänke, sackte darauf. Nur nicht wieder in diesen Keller sehen! Elend war ihm, er fühlte sich schwach. Dann wischte er sich das Gesicht ab und kramte sein Telefon hervor.
Eine halbe Stunde später war das Gelände voller Menschen. Johann Dinder saß immer noch auf der gleichen Holzbank. Alles war abgesperrt, vereinzelt zwischen den Bänken Polizisten, ein Krankenwagen und zwei Polizeiautos standen unten, oben wahrscheinlich noch mehr. Immer mehr Menschen kamen, und alle hatten etwas zu tun. Jeder schien für sich zu wissen, was. Im Keller wurde fotografiert, immer wieder blitzte es heraus. Menschen gingen hinein und kamen wieder heraus, und einer von denen, die herauskamen, hatte genauso gespien. Kein Wunder, bei diesem Anblick. Johann Dinder gegenüber saß ein Polizist in Zivil. Wahrscheinlich ein Kommissar. Er hatte sich zwar vorgestellt, doch bis zu Dinder war nicht viel durchgedrungen. Er hatte den Namen sofort wieder vergessen. Nur komisch war der gewesen irgendwie, als ob er einen Segen spräche. Was er gesehen und wann und wie er die Leiche gefunden habe, fragte der Kommissar. Ob hier Fußballfans gewesen seien in den letzten Tagen. Ob er den Mann vielleicht schon einmal gesehen habe. Ob er ihn kenne. Ob, und wenn ja, was er alles angefasst habe. Wie genau er das Tor vorgefunden habe. Fragen, Fragen, Fragen. Er hatte den Mann doch gar nicht gesehen, nur diesen offenen Leib. Die ekelhaften Fleischklumpen, das Blut an den Beinen, das Blut an den Wänden. Das Gesicht hatte er gar nicht gesehen, da hatte er schon gekotzt. Johann Dinder hatte dem Kommissar doch schon alles erzählt. Und das war nicht viel. Der aber wollte immer noch mehr wissen. Ob er vielleicht doch noch etwas gesehen habe, vielleicht etwas beobachtet, etwas Ungewöhnliches. Auf dem Weg herunter zum Beispiel. Oder in den letzten Tagen. Auf der Wiese vielleicht oder auf der Fahrt hierher. Er konnte dem Kommissar nicht dienen. Er erinnerte sich noch an den Spinnfaden im Sonnenlicht, aber der tat hier nichts zur Sache. Auch nicht der Buchfink oder die Sonnenlichtflecken. Wo war das jetzt alles hin? Johann Dinder wollte einfach nur weg. Nicht da sein. Weit weg, am liebsten zurück. Zurück in den schönen Morgen, in die Zeit davor. Die kühle Luft am Arm, das Glänzen des Taus in den
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