Schafkopf
gekommen war und angehalten hatte, betrachtete die Sache nüchterner und fand alsbald den Grund für die eigentümliche Symbiose zwischen Bubenkopf und Zaunpfahl: Ein hervorstehender Nagel war dem jungen Manfred in den Kopf gefahren. Der Bauer bekreuzigte sich ein zweites Mal. Manfred wurde mit dem Zaunpfahl am Kopf in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Die Sorgen des Notarztes darüber, dass der ins Hirn eingedrungene Nagel sich tödlich auswirken könnte, wurden von dem fronterfahrenen Sanitätsgefreiten zerstreut. Man glaube ja nicht, wie überflüssig die meisten Teile des menschlichen Gehirns seien und wie viele Kameraden mit Kopfschuss in Russland herumliefen.
Weitere Verrücktheiten waren aus Manfreds Jugend nicht überliefert. Im Fernsehen machten sie eine Werbepause, nicht ohne anzukündigen, dass man nach der Werbung die fiesesten Skateboardunfälle aller Zeiten zeigen werde. Wallner zog sich zum Telefonieren in die Küche zurück.
Vera entschuldigte sich, dass sie erst so spät zurückgerufen hatte. Es sei ein bisschen turbulent zugegangen in den letzten Tagen. Sie wollte wissen, wie der Stand der Ermittlungen war. Sie redeten eine Weile über den Mordfall. Doch hatte Wallner das Gefühl, als sei ihr kollegiales Gespräch nur das höfliche Vorgeplänkel für ein weit schwierigeres Thema.
»Also – was ist los?«, fragte Wallner schließlich.
»Was meinst du?«
»Du klingst seltsam. So als wolltest du mir etwas Unangenehmes sagen. Vielleicht täusche ich mich auch.«
Sie zögerte einen Augenblick. »Nein. Nein, du täuschst dich nicht.«
»Das hatte ich befürchtet. Was ist? Fühlt es sich nicht mehr so gut an wie gestern? Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Das ist es nicht. Es fühlt sich noch genauso gut an. Ich wäre gern bei dir.«
»Okay. Wo ist das Problem?«
»Ich habe dir erzählt, dass Christian einen Schwächeanfall hatte. Das ist mein Exmann.«
»Er war im Krankenhaus.«
»Ja. Ich hab ihn besucht. Er liegt auf der Krebsstation. Sie kennen ihn dort.«
Wallner war überrascht. Nicht wirklich erschüttert, er kannte Christian nicht. Aber er konnte nachempfinden, was es für Vera bedeutete. Ganz offensichtlich hatte sie nichts davon geahnt.
»Er hat Krebs?«
»Lungenkrebs. Er weiß es seit drei Jahren.«
»Wann war eure Scheidung?«
»Vor zwei Jahren. Christian wollte mich damit nicht belasten.«
Wallner lehnte im Türstock. Er hatte ein schlechtes Gefühl, was den weiteren Verlauf des Telefonats betraf.
»Was bedeutet das für uns?«
»Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Aber ich möchte Christian nicht allein lassen. Wir waren acht Jahre zusammen. Er braucht mich, und niemand weiß, wie lange er noch zu leben hat.«
Wallner fühlte einen schmerzenden Druck auf der Brust. »Was soll ich darauf antworten? Außer dass ich dich auch gerne hätte. Ist das zu egoistisch?«
»Überhaupt nicht. Es geht auch nur um mich. Ich … ich käme mir mies vor, wenn ich jetzt eine neue Beziehung anfangen würde.«
»Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du Christian verlassen hast, als er schon Krebs hatte.«
»Kann sein.«
»Das ist verständlich, aber irrational. Seine Krankheit hatte nichts mit deiner Entscheidung zu tun. Du musst dir nichts vorwerfen.«
»Kann sein. Aber sieh’s mal aus seiner Sicht. Du erfährst, du hast Krebs, und dann verlässt dich auch noch der Mensch, der dir am meisten bedeutet. Das ist … hart.«
»Ja. Das ist hart. Aber darum geht es nicht.«
»Sondern?«
»Liebst du ihn noch?«
Vera schwieg.
»Eure Liebe reicht nicht aus, um zusammenzubleiben. Das ist der Punkt. Und das hat nichts mit Christians Krebs zu tun.«
»So einfach ist das nicht. Wenn ich es damals gewusst hätte, hätte ich Christian nicht verlassen.«
»Und Christian war so anständig, seine Krankheit nicht als Druckmittel einzusetzen. Das macht’s natürlich jetzt auch nicht leichter für dich. Aber denk bitte noch mal in Ruhe drüber nach. Ich meine, ich weiß ja auch nicht, wie das mit uns weitergeht. Vielleicht stellen wir fest, dass wir gar nicht zusammenpassen. Aber ich hätte gern die Chance, es herauszufinden.«
»Es würde nicht gutgehen. Immer wenn wir zusammen wären, müsste ich daran denken, dass Christian gerade …«, sie stockte. »Mitleid ist keine Basis für eine Beziehung. Ich weiß. Aber ich würde mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen. Tut mir leid. Das Leben ist manchmal unfair.«
»Scheint so.« Wallner setzte sich auf einen
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