Schakale Gottes
Theateraufführung. Zugegeben, es hatte sich herausgestellt, daß die bis dahin unbescholtene Wera Sassulitsch den Mord begangen hatte, um Gefangene zu rächen, die vom Stadthauptmann höchstpersönlich geprügelt worden waren. Die Begeisterungsstürme aber, die das Urteil auslöste, reduzierten das Ansehen des russischen Gerichtswesens in so hohem Maße, daß es sich die von namhaften Anwälten beratenen Nihilisten künftighin leisten konnten, die Anklagebank zum Rednerpodium zu machen. So weigerte sich der wegen eines Verbrechens vor Gericht gestellte Myschkin, auf die übliche Einleitungsfrage, ob er sich schuldig bekenne oder nicht, mit Ja oder Nein zu antworten. Er erklärte vielmehr, Mitglied der sozialrevolutionären Partei zu sein und erlaube es sich als solcher, die Zeitung ›Obstschina‹ zu zitieren, aus der er dann über zwei Stunden lang vorlas. Das Gericht konnte erst einschreiten, als er seine Ausführung mit groben Schimpfkanonaden und mit Kraftausdrücken schloß, wie sie zuvor noch in keinem Gerichtssaal zu hören gewesen waren.
Myschkins Beispiel machte Schule. Gerichtsverhandlungen gegen Nihilisten gestalteten sich fortan zu dramatischen Szenen, die oftmals mit Schlägereien zwischen den Angeklagten und der Polizei endeten.
Auch vor der Kirche machten die Nihilisten keinen Halt. In Petersburg drangen sie in die Kasaner Kathedrale ein und bemächtigten sich des Sarges eines dort aufgebahrten Studenten, den sie gegen den Widerstand der Kirchendiener unter lautem Gejohle ins Freie trugen.
Vor spektakulären Brandlegungen scheuten sie ebenfalls nicht zurück. So ließen sie unter anderem den Petersburger Kaufhof inFlammen aufgehen. { * }
Zum erstenmal wurden auch ›Todesurteile‹ verschickt, für die ein ›Executiv Comité‹ die Verantwortung übernahm. Den äußeren Anlaß gaben Hungerstreiks, die von inhaftierten Nihilisten inszeniert und von der Gefängnisleitung mit gewaltsamer Ernährung (durch Einführen von Nahrungsstoffen mit Hilfe eines Schlauches) beantwortet worden waren. Kein geringerer als General Mesenzew, Chef der ›Dritten Abteilung‹ der kaiserlichen Kanzlei, die der Deutsche Graf Benkendorff als Geheime Staatspolizei aufgebaut hatte, erhielt als erster sein Todesurteil zugestellt. Und er wurde, allen Schutzmaßnahmen hohnsprechend, wenige Tage später beim Morgenspaziergang von zwei elegant gekleideten jungen Männern überfallen und ermordet.
Die nun einsetzende Verängstigung der Bevölkerung wurde von den Nihilisten zu Erpressungen größten Stiles ausgenutzt. Wer vermögend war, zögerte nicht, sein Weiterleben durch beachtliche Zahlungen zu erkaufen. Und das Executiv-Comité, das ein Todesurteil nach dem anderen aussprach, erdreistete sich, in Flugblättern den Geldraub als ›Confiscation‹ und den politischen Mord als ›Hinrichtung‹ zu deklarieren. Der Gouverneur von Charkow, in dessen Gefängnisbereich einige der in den Hungerstreik getretenen Nihilisten gestorben waren, wurde ermordet. Ihm folgten viele andere, bis schließlich sogar Zar Alexander II. das Opfer eines Attentats wurde.
»Unser Freiheitskampf läßt sich in keiner Weise mit dem anarchistischen Treiben der Nihilisten vergleichen«, schloß Roman Górski. »Und es steht dahin, ob es gut für uns war, daß Zar Alexander ermordet wurde. Vielleicht wirft sein Tod aber ein bedeutsames Schlaglicht auf die prophetischen Worte des russischen Dichters Lermontov, der 1830 schrieb: ›Ein Jahr wird kommen, ein schwarzes Jahr für Rußland / Da wird die Krone des Zaren fallen / Das Volk wird seine frühere Liebe für ihn vergessen / Und die Nahrung für viele wird Tod und Blut sein.‹«
»Ein Chaos in Rußland wäre die Rettung für uns«, begeisterte sich Natascha.
Ihr Bruder schüttelte den Kopf. »Da bin ich anderer Meinung. Wir könnten leicht in einen gefährlichen Sog geraten.«
Seine Schwester stand auf. »Wie es auch sein mag: ich koche jetzt Kaffee«, sagte sie und wandte sich an Fedor. »Komm, hilf mir dabei.«
Roman dachte augenblicklich an Nataschas Bestreben, ihren Freund mit dem Weitertransport des Geldes nach Krakau zu beauftragen. Offensichtlich wollte sie ihn deshalb sprechen. Er ging zu Babuschka hinüber und fragte: »Hab' ich dich überzeugen können?«
Sie hielt ihm die Hand hin. »Wie immer.«
Er flüsterte ihr zu: »Folge den beiden! Ich muß wissen, was Natascha von Fedor will.«
Babuschka erhob sich auf der Stelle.
»Nicht so auffällig«, warnte Roman und kehrte zu seinen
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