Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Kind auf dem Schoß des Vaters sitzen konnte.
    Avri hatte immer erst für Jaki gesorgt, weil er noch zu klein war, um über die Mauer zu klettern, und erst wenn er jemanden gefunden hatte, der bereit war, den Kleinen mit ins Stadion zu nehmen, hatte er sich um sich selbst gekümmert. Wenn er keinen Gönner fand, hatte er, nachdem das Tor geschlossen war, das Seil aus dem Versteck geholt, es über die Metallspitzen des Tors geworfen und war blitzschnell hinaufgeklettert und dann, wenn er sich versichert hatte, dass alle Platzanweiser auf das Spielfeld schauten, ins Stadion gesprungen.
    Einmal, als sie niemanden gefunden hatten, der bereit war, wenigstens Jaki mit hineinzunehmen, hatte er nicht lange überlegt und das Seil geholt. Er war hinaufgeklettert, um nachzuschauen, ob die Bahn frei war, dann hatte er Jaki gedrängt, es ihm nachzumachen. Als sie beide oben auf dem Tor waren, sprang Avri hinunter, er war sicher, dass der Kleine auch springen würde. Aber der Kleine war ungeübt, und während Avri sich schon darauf konzentrierte, was auf dem Spielfeld geschah, hörte er plötzlich einen schrecklichen Aufschrei, so laut, dass er das Geschrei von den Tribünen übertönte. Erschrocken drehte er sich um und sah seinen Bruder, der mit den Händen zwischen den Metallspitzen hängen geblieben war. Der Anblick war so furchtbar, dass er, ohne nachzudenken, losraste und den Sanitäter der Fußballmannschaft Hapoel Haifa holte. Der Mann verstand gar nicht, was er von ihm wollte, erst als sie die Tribünen hinter sich hatten.
    Avri hatte nicht gesehen, wie man Jaki herunternahm, auch nicht, wer es getan hatte, er hatte sich, überwältigt von Schuldgefühlen, auf den Boden geworfen und schlug mit dem Kopf gegen die Mauer, bis jemand ihn fragte, ob er mit dem verletzten Jungen ins Krankenhaus fahren wolle. Nie würde er das schmerzverzerrte Lächeln auf Jakis Gesicht vergessen, als er in den Notarztwagen stieg. Jaki hatte sich auf dem ganzen Weg zum Krankenhaus nicht beschwert, er hatte auch nicht geweint, er hatte nur darum gebettelt, dass man seiner Mutter nicht erzählte, wie es geschehen war.
    Auch Avri wusste noch genau, dass er sich weniger Sorgen wegen Jaki machte, als dass er Angst vor seiner Mutter hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, Jaki war sein kleiner Bruder und er hätte auf ihn aufpassen müssen. Aber was hatte er getan? Er hatte Jaki dazu gebracht, aufs Tor zu klettern, und war selbst hinuntergesprungen, ohne sich zu überzeugen, dass Jaki es ebenfalls schaffte. Es war klar, wer an dem Unfall schuld war. Er wusste nicht, wie er die beschuldigenden Blicke seiner Mutter aushalten würde. Wenn sie ihn wenigstens beschimpfen würde, das würde er gern ertragen, auch Schläge hätte er gern auf sich genommen, aber er wusste, dass sie nicht auf ihn losgehen würde, sie würde ihn nicht anschreien und sie würde ihn nicht schlagen. Nur ihre Blicke würden sein Fleisch durchbohren. Er wusste nicht, wie er es ertragen sollte.
    Als die Trage mit Jaki hinter dem grünen Vorhang verschwunden war und eine Krankenschwester ihn anwies, auf der Bank zu warten, setzte er sich hin und starrte die Fußbodenfliesen an, bis er vom Eingang zur Notaufnahme eine Bewegung wahrnahm. Noch bevor er aufschauen konnte, war ihm klar, dass sie gekommen war. Er sah, wie sie hereingerannt kam, und wusste, dass es nur noch wenige Minuten dauern würde, bis sie Bescheid wusste. Dann würden diese durchbohrenden Blicke kommen.
    Aber er hatte sich geirrt. Ein kurzer Blick auf Avri reichte ihr, um alles zu verstehen. Statt zu Jaki zu rennen, kam sie zu ihm, nahm ihn in die Arme, drückte seinen Kopf an ihre weiche, warme Brust und sagte: »Avri, du bist nicht schuld!«
    Mit einer Hand umarmte sie ihn und mit der anderen strich sie ihre Finger durch seine Haare. Das würde er nie vergessen. Er erwiderte ihre Umarmung und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Das Weinen kam von selbst und schüttelte seinen Körper, aber er drückte den Kopf fest an ihre Brust, weil er nicht wollte, dass man ihn weinen sah.
    »Mach dir keine Sorgen wegen Jaki«, sagte sie. »Das geht vorbei, darauf kannst du dich verlassen. Glaub mir, Menschen machen schlimmere Dinge durch und werden gesund.«
    Als seine Mutter ihm nun die Tür aufmachte, hatte er die Erinnerung an die Umarmung in der Notaufnahme noch deutlich vor Augen, er bückte sich und küsste sie zärtlich auf die Wange. Ihre Umarmung war zwar weniger fest als damals, aber sie war seine Mutter, und er

Weitere Kostenlose Bücher