Schalom
hatten, konnte Avri inzwischen verstehen, aber wie war es möglich, dass er und sein Bruder überhaupt keine Fragen gestellt hatten? Zu Hause wurde nie ausdrücklich darüber gesprochen, aber es hing immer etwas Seltsames in der Luft. Niemand hatte ihnen verboten, etwas zu fragen, sie hatten es einfach nicht getan, Gott weiß warum.
Es hatte manchmal Bemerkungen gegeben, die nie kommentiert wurden und eigentlich auch keine Erklärung benötigten, Sprüche wie: »Ihr werdet nie wissen, was es bedeutet, Hunger zu haben!« Das hatte seine Mutter gesagt, mit einer vernichtenden Handbewegung, wenn er oder Jaki nach stundenlangem Draußenspielen zu ihr kamen und sagten: »Mutter, ich sterbe vor Hunger.« Oder das Wort »dort«. Es war klar, dass damit die Orte gemeint waren, wo sie früher, damals, gewesen waren, Orte, die aber nie benannt wurden. Oder die Formulierung »der da« oder »die da«, die für die Deutschen reserviert war. Jaki und er hatten nicht gefragt, was »die da« ihnen »dort« angetan hatten. Es war klar, dass das Geschehene etwas war, was in normaler Menschensprache nicht ausgesprochen werden konnte. Es war sinnlos, auch nur einen Versuch zu machen. Sein Vater war sogar nach seinem Wutausbruch wegen Jaki nicht bereit gewesen zu erzählen, was wirklich geschehen war, obwohl Jaki endlich diese Frage gestellt hatte. Aber auch da war Avri nicht neugierig geworden. Und hätte Gil jetzt nicht verlangt, zu ihr zu fahren, und hätte sie sich nicht geweigert, ihn zu empfangen, hätte er sich diese Frage auch jetzt nicht gestellt.
Erst als der Flugkapitän die Landung ankündigte und die Passagiere aufforderte, sich zu setzen und die Sicherheitsgurte anzulegen, stellte Avri fest, dass er den Gurt nach dem Start nicht geöffnet hatte. Die Maschine flog tiefer in die weiße Wolle, die zunehmend zu einem dichten Nebel wurde, bis man nichts mehr sah außer einem grauen, dampfigen Schwamm.
Als er im Bus saß, der auf der Küstenstraße Richtung Norden fuhr, und draußen noch nichts anderes zu sehen war als Lastwagen und die Dächer der Autos vom Gegenverkehr, überlegte er, was genau der Grund für seine Unruhe war. Es lag nicht daran, dass er nicht wusste, was »dort« passiert war, sondern er verstand einfach nicht, was sie gegen Jakis Sohn hatte, warum sie sich so heftig weigerte, ihn zu sehen.
Vicky meinte ja, seine Mutter wäre vielleicht gar nicht so geschockt, wenn Gil überraschend vor ihr stehen würde. Aber Vicky hatte ihr Gesicht nicht gesehen, das Gesicht, mit dem sie zugehört hatte, als der Vater wütend zu Jaki sagte, kein Deutscher würde je dieses Haus betreten. Wer damals nicht dabei war, der konnte nicht verstehen, wie sehr es seiner Mutter ernst war mit ihrer Weigerung.
Er hätte gern mit Gil gesprochen, bevor der Junge vielleicht etwas kaputt machte, aber er fühlte sich ihm nicht nahe genug. Das hätte sein Vater tun müssen. Vielleicht hatte Jaki ja mit Gil gesprochen, das musste er unbedingt klären, bevor der Junge bei ihr auftauchte.
Warum, zum Teufel, sollte er sich überhaupt damit befassen? Es ging schließlich nicht um seinen Sohn. Er selbst war die ganzen Jahre hiergeblieben, bei der Mutter, und er hatte sich nie bei Jaki beschwert, warum … Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da regten sich bereits Schuldgefühle.
Er hatte kein Recht, sich zu beklagen. Jaki lebte zwar in Deutschland und hatte fast keinen Kontakt zu seiner Mutter, aber er, Avri, kümmerte sich auch nicht allzu viel um sie. Sie konnte ganz gut für sich selbst sorgen, er half ihr nur bei Angelegenheiten, die mit der Bank zu tun hatten, und ab und zu bat sie um seine Begleitung, wenn sie wegen einer Untersuchung zum Arzt musste. Sie hatte sich sogar ohne seine Hilfe eine neue Waschmaschine gekauft.
Auch als er zu Fuß durch die Unterführung ging und den scharfen Uringeruch wahrnahm, hörte er nicht auf, über das alles nachzudenken. In Kiryat Eliezer beeilte er sich, dem Autolärm zu entkommen, er ging an der Betonmauer des Stadions vorbei und betrat den Eukalyptushain, in dem noch die Reste des Vergnügungsparks und Spuren einer ehemaligen Siedlung für Armeeangehörige zu sehen waren.
Bevor diese Mauer gebaut worden war, hatten er und Jaki sich samstags ins Stadion geschlichen, um Fußballspiele anzuschauen. Danach war es zu schwierig geworden, und sie waren dazu übergegangen, Leute, die an der Kasse warteten, anzubetteln, ob sie sie nicht mit hineinnahmen, denn Kinder waren umsonst, weil das
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