Schalom
hätte er die Mutter heute Morgen nicht mit eigenen Augen in Haifa gesehen, hätte er sogar vermutet, dass die Tante für Jaki und Anna eine Überraschung vorbereitete. Tante Zila hatte schon immer gern Komplotte geschmiedet.
Obwohl er keine Beweise dafür hatte, glaubte er immer noch, dass Tante Zila es war, die damals, nach der Trauerwoche, Jakis Flugticket hatte verschwinden lassen, um seinen Aufenthalt bei der Mutter zu verlängern.
Er konnte auch ihre funkelnden Blicke nicht vergessen, als sie ihnen vorschlug, mit Chawale spielen zu gehen, der Tochter ihrer Nachbarn, als sie noch in Kefar-Schalem wohnten und zum Pessachfest zu ihr gekommen waren. Tante Zila hatte eigentlich nicht wissen können, was im Dickicht des Akazienstrauches passieren würde, aber diese Blicke hatten in ihm das Gefühl geweckt, dass sie sehr wohl wusste, was sie dort manchmal taten. Was war eigentlich aus Chawale geworden? Er hatte nie wieder von ihr gehört.
Immerhin war Zila ihre einzige Tante, und Jakis Besuch war eine gute Gelegenheit, sie wiederzusehen.
Sie müssten wegen dieser Einladung nicht auf den Flug nach Eilat verzichten, sagte er zu Anna, sie könnten den Besuch hier im Altersheim abkürzen.
Bevor sie auf dem Parkplatz des Altersheims aussteigen konnten, klingelte schon wieder das Telefon.
»Es ist wieder Mutter«, sagte Avri, als er ihren Namen auf dem Display sah.
»Hörst du, Avri?«, rief sie, als er das Gespräch annahm. Sie wartete seine Antwort nicht ab und sprach sofort weiter: »Ihr wart noch nicht bei der Polizei, stimmt’s?« Auch diesmal wartete sie nicht, sondern fuhr fort: »Dann wartet dort auf mich! Hörst du, Avri?«
Er suchte Jakis Augen, aber Jaki schaute ihn nicht an.
»Mutter, aber …«
»Ohne aber! Avri, hörst du? Ihr wartet da ganz einfach auf mich!«
»Schalom, Mutter!«, sagte Jaki plötzlich entschlossen.
»Wer ist da? Jaki?«, fragte sie, aber es war klar, dass sie genau wusste, wer sprach.
»Ja, Mutter, ich bin’s. Ich bin hier im Auto mit Avri und Anna.«
»Herzlich willkommen«, sagte sie. »Hast du gehört, was ich zu Avri gesagt habe?«
»Ja, Mutter, ich habe es gehört, aber … wir haben eigentlich vor, heute Abend nach Eilat zu fliegen.«
»Jaki, hast du gehört, was ich zu Avri gesagt habe? Ihr wartet da auf mich! Ich bin schon unterwegs, und wenn ihr nach Eilat fliegen müsst, fliege ich mit euch. Ich möchte meinen Sohn sehen, und vergiss nicht, dass ich auch Gils Großmutter bin!«
Avri sah in Jakis Gesicht, dass auch er über die energische Stimme der Mutter verblüfft war, und nahm an, dass eine Auseinandersetzung mit der Mutter das Letzte war, was er wünschte, vermutlich würde er das Treffen gern verschieben, bis sie Gil gefunden hatten.
»Aber Mutter, wie willst du …«, sagte Avri.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte sie, »ich habe mir bereits einen Fahrschein für die Bahn bestellt. Hat Zila schon mit euch gesprochen?«
Beide bestätigten das gleichzeitig und lächelten sich an. Sie waren Brüder, oder etwa nicht?
»Ihr erledigt die Sache bei der Polizei«, befahl die Mutter, »und fahrt dann zur Tante. Ich werde da auf euch warten.«
Avri nutzte eine kurze Pause und versuchte, ihr diese überflüssige Fahrt auszureden. »Mutter, das ist keine gute Idee, dass du jetzt zur Bahn gehst und mit dem Zug kommst.«
Jaki versuchte, ihn zu unterstützen: »Das stimmt, Mutter, Avri hat recht. Wir …«
Aber sie ließ ihn nicht zu Ende reden. »Ich bin schon ein großes Mädchen«, sagte sie. »Ich kann allein mit dem Zug fahren.«
Avri begriff, dass da nichts mehr zu machen war.
»Warum versucht ihr, ihr zu diktieren, was für sie gut ist?«, flüsterte Anna Jaki zu. »Lasst sie selbst entscheiden.«
Hätte er den Mut gehabt, hätte Avri sie zum Schweigen gebracht. Er hoffte, dass die Mutter sie nicht gehört oder Annas Stimme nicht erkannt hatte. Doch die Mutter hatte es gehört und fühlte sich dadurch bestärkt.
»Hört auf das, was die Dame dort meint«, sagte sie.
»Das ist nicht irgendeine Dame«, platzte Jaki heraus. »Es ist Anna.«
Sie antwortete nicht. Auch Avri wusste nicht, was er sagen konnte. Lange schaute er Jaki und Anna stumm an. Er stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor. Hatte sie den Kopf vom Hörer abgewendet und leise gezischt: Diese Deutsche, ausgelöscht sei ihr Name!, oder etwas Ähnliches?
Gil hätte sie bestimmt ohne Schwierigkeiten bremsen können, aber wenn Gil hier wäre, wäre diese Situation ja gar nicht erst
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