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Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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entstanden.
    In diesem Moment unterbrach die Mutter ihr Schweigen:
    »Schon gut, macht euch wegen mir keine Sorgen, ich werde schon irgendwie hinkommen …«
    Avri fragte, wann sie in Tel Aviv sein würde, damit er sie vom Bahnhof abholen könne, doch das lehnte sie ab.
    »Habe ich dir nicht gesagt, dass ich ein großes Mädchen bin?«

30
    Erst als er die ersten Töne der Ode an die Freude hörte und dadurch von der Zeitung, die er las, abgelenkt wurde, bemerkte Professor Sad, dass das Radiogerät eingeschaltet war. Und hätten diese Töne seine Ohren nicht erreicht, hätte er nicht gemerkt, dass er Durst hatte. Er stand auf, um sich ein heißes Getränk zuzubereiten, und noch bevor er die Kaffeedose in die Hand nahm, erinnerte er sich, dass er gestern den letzten Rest des Kaffeepulvers verbraucht hatte. Er hatte neuen kaufen wollen, und in der Tat, als er den Einkauf im Supermarkt beendete, hatte er eindeutig das Gefühl, etwas vergessen zu haben, aber es war ihm nicht eingefallen, was.
    Es würde ihm nicht schaden, noch einmal hinauszugehen. Es war nicht gesund, sich in der Wohnung zu vergraben und keinen Menschen zu sehen. Allerdings war es ihm gegenüber der Witwe, der Besitzerin des Lebensmittelladens, ein bisschen unangenehm, denn sie wusste genau, dass er bei ihr nur die Dinge kaufte, die er im Supermarkt vergessen hatte. Obwohl sie nie eine Bemerkung machen würde, spürte er genau ihre vorwurfsvollen Blicke, während er das Produkt suchte, das ihm fehlte. Sie fragte nie, wonach er suchte, und er würde nie ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Er wusste nicht, ob sie seinen Namen kannte, und hätte ihr Name nicht auf dem Schild an der Tür gestanden, hätte er auch ihren nicht gewusst.
    Auf dem Schild stand: Der Lebensmittelladen von Schukri . Er nannte sie Frau Schukri und fragte sich, ob sie etwas mit Hassan Schukri zu tun hatte, dessen Namen er noch aus den Nachrichten der Fünfziger- und Sechzigerjahre kannte, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wer dieser Hassan Schukri gewesen war. Er hätte natürlich auch bei Gottesmann einkaufen können, aber seit der Laden nicht mehr vom alten Gottesmann geführt wurde, kaufte er bei der Witwe ein. Er konnte die Arroganz des jungen Gottesmann nicht ausstehen.
    Als er das Portemonnaie nahm und am Tisch vorbeiging, auf dem die Zeitung noch ausgebreitet lag, fiel sein Blick wieder auf das Gedicht, das der Dichter Nathan Zach der scheidenden Ressortleiterin für Literatur gewidmet hatte. Dieses Gedicht hatte er vorhin gelesen. Er las es noch einmal und musste gestehen, dass dieser Mann zwar jünger war als er, trotzdem aber sehr gut spürte, was auf ihn zukam.
     
    Dass wir uns später nicht im Heim der Alten treffen.
    Ich werde eine welke Greisin sehen,
    Im Rollstuhl oder mit dem Gehstock gehend,
    Die sich erkundigt, wie viel Uhr es ist.
    Ich schaue in den Spiegel und erkenn’ mich nicht.
    Denn was ich seh, ist meines Opas faltiges Gesicht.
     
    Frau Silber war zwar keine welke Alte und bestimmt keine, die sich auf einen Gehstock stützt, aber was er im Spiegel sah …
    Er schlug die Zeitung zu und stand auf. Er hatte doch zum Lebensmittelladen gehen wollen, warum dachte er jetzt wieder an diese Frau Silber?
    Als er die Treppe hinunterging, wunderte er sich, warum er so schnell lief und die Sicherheitsregeln, die er sich eigentlich fest vorgenommen hatte, ignorierte. In den letzten Tagen hatte Frau Silber immer, wenn er bei ihr vorbeiging, die Tür aufgemacht, als hätte sie ihm hinter der Tür aufgelauert. Er ging langsamer und achtete auf seine Schritte, und als hätte jemand im Himmel oder hinter ihrer Tür seine Gedanken gelesen, hörte er, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, noch bevor er an ihrem Treppenabsatz angekommen war, und ein Rollkoffer wurde aus der Tür geschoben. Dahinter kam Frau Silber selbst.
    »Schalom«, sagte er verlegen.
    Sie zuckte zusammen und schaute erschrocken zu ihm hinauf.
    »Oh, Professor Salzbad«, sagte sie und legte sich beruhigend die Hand auf die Brust.
    Er entschuldigte sich, sie erschreckt zu haben, und bot an, den Koffer für sie hinunterzutragen.
    »Danke, danke, Professor«, sagte sie, und obwohl er ihr ansah, dass sie sein Angebot ablehnen wollte, eilte er zu ihr und ergriff den Koffer.
    »Unten können Sie den Koffer rollen«, sagte er, »ich trage ihn nur im Treppenhaus …«
    Warum, zum Teufel, musste er den edlen Ritter spielen? Der Koffer war weder besonders groß noch besonders schwer, doch schon nach wenigen

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