Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
operieren; es sei denn, es handelt sich um eine Amputation.«
Das Mädchen begann hemmungslos zu schluchzen, und wie gern hätte Leonard gerufen: »Hier bin ich, ihr müsst euch meinetwegen keine Sorgen machen.«
»Es tut mir leid, das sagen zu müssen«, lenkte der Arzt ein. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie schwer es um seine inneren Verletzungen |231| steht. Schon gar nicht weiß ich, wie es in seinem Kopf aussieht. Er hat zweifellos ein Schädelhirntrauma – allein das ist unter normalen Umständen und ohne vernünftige Behandlung ein Todesurteil.«
»Und was wird aus unserem Projekt?« Diesmal war es Aslan, der verzweifelt nach einem Strohhalm griff. »Ohne Schenkendorff sind wir aufgeschmissen. Keiner von uns hat Ahnung von automatischen Fernsteuerungen, geschweige denn von Funk- oder Radiowellen.«
»Ich fürchte, die Lagerleitung hat sich bereits auf eine Weiterentwicklung des Projekts ohne Herrn Schenkendorff eingestellt«, erwiderte der Arzt bedauernd. »Kommandeur Lobow hat Leutnant Subbota nach Krasnojarsk entsandt. Auch wenn es schwierig werden wird, ist er bereits auf der Suche nach einem Ersatz.«
»Hat es einen Sinn, wenn Weinberg noch einmal mit ihm spricht«, führte Pjotr leise ins Feld. »Ich meine, wenn Leonard vielleicht doch wieder gesund werden würde … Er hat da ein Mädchen in Tomsk, sie ist von ihm schwanger, und in diesem Fall ist er tatsächlich der Vater …«
»Ich würde sagen, vergessen Sie es, aber wenn der Professor vorsprechen möchte … Ich bin der Letzte, der Ihnen davon abraten möchte.«
»Allah ist groß«, murmelte Aslan. »Und manchmal gewährt er ein Wunder.«
»Ich wünsche Ihnen allen einen guten Abend.« Primanovs Stimme verriet seine zunehmende Ungeduld. »Und nun gehen Sie bitte!«
Wieder hörte Leonard Schritte, die sich entfernten, bis sich die Tür hinter ihnen schloss.
»Was wollen Sie tun?« In der Frage schwang ein banger Unterton, und es war wieder eine Frau, die sie stellte.
Primanov räusperte sich leise, bevor er antwortete. »Wenn er weiterhin kein Lebenszeichen zeigt, werde ich ihm eine Überdosis Morphin injizieren, um ihn von seinem Leiden zu erlösen.«
»Das können Sie nicht tun, Herr Doktor! Was würde der Pope dazu sagen? Es verstößt eindeutig gegen das fünfte Gebot Gottes. ›Du sollst nicht töten!‹«
»Es ist das Beste für ihn, Schwester Maria«, verteidigte sich Primanov. »Mein Vater war als Divisionsarzt im siebziger Krieg, er hat nicht viel erzählt, aber soviel, dass es manchmal ein Akt der Gnade sei, ein Leiden zu verkürzen. Gott kann nicht wollen, dass jemand elendig |232| krepiert, der sowieso keine Chance hat, wieder gesund zu werden. Ich habe heute Nachmittag mit dem Kommandeur über das Thema gesprochen, und er hat mir zugestimmt. Wenn Schenkendorff nicht binnen der nächsten zehn Tage zu sich kommt, hat er mir die Erlaubnis gegeben zu handeln.«
Es dauerte eine Weile, bis Leonard begriff, was dieses Urteil bedeutete und dass er sich offenbar in einer Art Zwischenwelt befand. Nicht tot, aber auch nicht lebendig. Er hörte die Stimmen, wie sie seinen Zustand kommentierten, ihn bedauerten, seine Verletzungen mit hoffnungsloser Stimmlage beurteilten und sich währenddessen an seinem Körper zu schaffen machten. Spüren konnte er von alledem nichts. Er konnte nicht riechen, nicht schmecken, und als die Frau ihm offenbar etwas zu trinken einverleiben wollte, hörte er nur ein gurgelndes Husten, welches augenscheinlich von ihm selbst stammte. Der Arzt meinte, man müsse es mit einem Kautschukschlauch versuchen.
Dann gingen sie wieder, und Leonard blieb einsam zurück, gefangen in seinem Kopf und halb verrückt vor Angst.
Schweigend schlichen Pjotr, Aslan und Kissanka zurück zu den Unterkünften. Kissanka erschauderte, als plötzlich ein kehliger, unmenschlicher Schrei über die Dächer des Lagers hallte. Gebeugt, das wollene Kopftuch tief ins Gesicht gezogen, weinte sie immer noch. Pjotr empfand tiefes Mitleid, obwohl Aslan die Wahrheit gesagt hatte. Sie trug eine Mitschuld am Unglück des Kameraden und auch ihres Vaters. So wie es sich darstellte, hatte ihr Vater die Schwangerschaft bei ihr bemerkt und sie der Hurerei verdächtigt. Anschließend hatte er sie windelweich geprügelt, und in ihrer Not hatte sie Leonards Namen herausgeschrien und ihn als Vater ihres Kindes genannt. In jener Nacht, in dem Tungusenzelt habe er sich ihr unsittlich genähert, und sie habe sich aus Dankbarkeit für die Rettung
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