Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Einen Moment überlegte er, ob er ihr erzählen sollte, wie treffend dieser Begriff gewesen war und von Anna, die für seine Freiheit mit dem Leben bezahlt hatte, doch |237| dann verzichtete er lieber darauf. Zu schwer waren die Erinnerungen an ihren gewaltsamen Tod.
»Wegen Bashtiri und Lebenov?«
Leonid nickte. »Sie dachten, ich sei tot. Zudem glaubte alle Welt, ich sei bei einem Helikopterabsturz ums Leben gekommen, von dem niemand wusste, dass es Lebenov und Bashtiri waren, die ihn initiiert hatten.«
»Mein Gott!« Viktoria schaute ihn entsetzt an. Sie spürte, wie ihr schwindlig wurde. Langsam begann sie zu ahnen, zu welchem Kaliber Bashtiri und Lebenov zählten.
»Und deine Familie? Wussten sie, dass du noch lebtest und was dir widerfahren war?«
»Nur meine Großeltern kannten die ganze Wahrheit. Ich habe mich hierher durchgeschlagen und im Wald versteckt. Der restlichen Familie haben sie verschwiegen, dass ich noch lebte, weil sie mich nicht nur vor meinen Feinden, sondern auch vor meinem Vater und seiner schwatzhaften Verwandtschaft schützen wollten. Irgendwie schienen alle in seiner Sippe froh zu sein, als es hieß, ich sei im Krieg gefallen.«
»Aber warum? Waren sie nicht stolz auf dich?«
»Sie dachten, ich sei verflucht. Sie hatten zeit ihres Lebens Angst, dass ich ihnen großen Schaden zufügen könnte.«
»Verflucht?« Viktoria betrachtete ihn nachdenklich. So wie er im Bett neben ihr lag, die Arme lässig hinter dem Kopf verschränkt und mit einem Lächeln, das ihr den Atem nahm, sah er ganz und gar nicht aus, als wäre er verflucht.
»Eine Prophezeiung besagt, dass es mir bestimmt sei, ein großer Schamane zu werden. Nach meiner Geburt sind neun Menschen gestorben. Meine Mutter und alle acht Geschwister. Ein alter Schamane aus dem Stamm meines Vaters behauptete, es sei ein Zeichen, dass die Dämonen sich schon vor der Geburt meiner Seele bemächtig hätten. Irgendwann müsste ich ihnen zur Verfügung stehen und einen Tribut dafür zahlen, der weit höher ausfiele als der Tod meiner eigenen Familie. Die gesamte Sippe meines Vaters müsse sterben, falls ich ihrem Ruf folgen würde – und erst recht, wenn ich es nicht täte.«
»Und? Was wirst du tun? Oder hat sich dein Schicksal bereits erfüllt?« Viktoria hatte Mühe, den richtigen Ton zu finden.
|238| »Nein, mein Initiationsritus wurde noch nicht vollzogen. Ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt ein richtiger Schamane werden will. Selbst wenn ich Zweifel hege, dass die dunkle Seite unserer Welt soviel Macht über mich erringen könnte, will ich es nicht darauf ankommen lassen.«
»Wie muss ich mir einen solchen Ritus vorstellen?«
»Der Anwärter geht durch eine lange Schule der Einweisung, danach, wenn er soweit ist und alles Wesentliche verinnerlicht hat, wird er zerstückelt. Dreimal von Kopf bis Fuß in seine Einzelteile zerlegt. Die Geister fangen währenddessen sein Blut auf und essen sein Fleisch, säubern die Knochen und sortieren sie aus. Dann nehmen sie das Fleisch aus den Reihen der Angehörigen seiner Vätersippe und legen es um seine blanken Knochen. Danach wird er von ihnen zu einem neuen Menschen zusammengesetzt. Das ist auch der Grund, warum die Verwandten, die es betrifft, sterben müssen.«
»Das ist nicht dein Ernst?« Ein ungläubiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es hört sich an wie Kannibalismus. Und wie sollte so etwas funktionieren? Ich stelle mir vor, ich schlachte eine Kuh, mache einen Hamburger daraus, esse ihn auf und setze hinterher wieder alles zusammen?«
»Du verstehst es nicht.« Seine Stimme klang ein wenig gereizt.
»Es ist mehr theoretisch. Es geschieht in einer Art Trance – für Außenstehende nicht zu sehen und zudem schwer zu erklären.«
»Und du glaubst an so etwas?«
»Natürlich glaube ich daran. Ich weiß es sogar. Sonst lägen wir nicht hier, und du würdest nicht atmen.« Für einen Moment war sein Blick ernst geworden, so ernst, dass Viktoria die Unsicherheit nicht unterdrücken konnte, die sie empfand. Vielleicht war er doch nicht ganz bei Trost und entpuppte sich im Nachhinein als Psychopath, der sie mit Drogen manipulierte, damit sie tat, was er wollte.
Leonid lächelte und sah sie an, als ob er ahnte, was in ihrem Kopf vorging. »Die Dämonen werden mich nicht bekommen – obwohl sie es schon versucht haben.«
Viktoria schüttelte ungläubig den Kopf. »Du machst Scherze, oder?«
»Denk, was du willst«, erklärte er lächelnd. »Ich kann gut verstehen, dass
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