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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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zustimmen würde, verabschiedete sich Pjotr von dem Mädchen.
    In der Baracke fanden er und Aslan den graubärtigen Juden betend vor einem improvisierten Altar. Es war Donnerstagabend. Weinberg praktizierte wie jede Woche seine bescheidene Feier zum beginnenden Shabbat. Aslan und Pjotr störten ihn nicht, sondern setzten sich schweigend auf ihre Pritschen und verfolgten fasziniert die jüdischen |235| Rituale. Erst als Weinberg mit seinen Gebeten fertig war und mit ihnen das Brot brach, weihten sie ihn in ihre Pläne ein.
    »Es gibt weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir zu glauben vermögen«, sagte der Jude leise und trank einen Schluck vom billigen Wein, den er sich in all den Monaten seiner Anwesenheit hart erarbeitet hatte. Pjotr und Aslan lehnten dankend ab, als er ihnen einen Becher davon anbot.
    »Wirst du uns helfen, Isaak, den Kommandeur zu überzeugen?«
    »Natürlich«, antwortete Weinberg mit der sonoren Stimme eines Priesters. »Obwohl es nicht leicht werden wird, einen orthodoxen Christen von der Möglichkeit eines solchen Wunders zu überzeugen.«
    »Einen ungläubigen Menschen von einem Wunder zu überzeugen ist immer eine schwierige Sache«, bemerkte Aslan. »Es gehört zu seiner Natur, dass er es selbst erlebt haben muss, bevor er es glauben kann.«

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    18
    Juni 2008, Tunguska – Permafrost
    Durch die Ritzen des einzigen, verriegelten Fensters drang die Morgendämmerung herein, und das Gezwitscher der Vögel ersetzte zuverlässig den schrillsten Wecker. Eine große Hand tastete sich sanft zu Viktorias Brüsten hin, und eine Nasenspitze rieb sich zärtlich an ihrem Ohr. Eine von Leonids langen schwarzen Haarsträhnen versperrte Viktoria die Sicht, und im ersten Moment dachte sie, es wäre ein weiterer exotischer Traum, als seine weichen Lippen ihren Mund berührten und seine kurzen Barthaare an ihrer Wange kratzten. Sein Kuss hingegen war unschuldig und ohne in irgendeiner Weise an das heiße Verlangen anzuknüpfen, das sie die halbe Nacht und noch bis in den Schlaf hinein verfolgt hatte.
    Für einen Moment schenkte er ihr jenes strahlende Lächeln, das ihr Herz regelrecht dahinschmelzen ließ.
    »Guten Morgen«, sagte er leise auf Deutsch. Bereits nach kurzer Zeit hatte es sich zu einer Art Spiel entwickelt, dass er nur noch Russisch sprach, wenn ihm eine Vokabel fehlte.
    |236| Zwischen seinen Liebkosungen hatte er immer wieder geduldig ihre zaghaften Fragen beantwortet, weil sie alles über ihn und seine Herkunft wissen wollte. Seine kleine, gütige Großmutter, die Lebenov so mutig die Stirn geboten hatte, war deutscher Abstammung und hatte ihn zusammen mit seinem Großvater, einem einheimischen Ewenken, bis zu seinem fünfzehnten Geburtstag aufgezogen. Leonids Mutter war bei seiner Geburt gestorben, daher hatte er sie kaum vermisst. »Mein Vater ist am Wodka krepiert«, gestand er ihr freimütig. »Wir konnten nicht besonders miteinander. Ist noch nicht lange her. Als ich ein Jugendlicher war, holte er mich nach Krasnojarsk. Er hat sich nicht wirklich um mich gekümmert. Mit knapp siebzehn bin ich von zu Hause ausgezogen. Ich glaube, er war froh, als ich zum Militär gegangen bin.«
    »Du warst Soldat?«, fragte Viktoria weiter, obwohl sie von seiner Heldenmedaille wusste. Schließlich hatte er irgendetwas von Tschetschenien erzählt.
    »Ich war Offizier.« Er lachte trocken. »Pilot. Ich habe einen Helikopter geflogen. Aber es hat mir kein Glück gebracht. Ich bin da in eine dumme Sache hineingeraten. Lebenov und Bashtiri waren auch darin verwickelt.« Er sah Viktoria nachdenklich an. Sie erinnerte ihn an Anna, das Mädchen mit den Plastikschuhen, wie er seine Retterin in Grosny still für sich genannt hatte. Viktoria strahlte die gleiche Entschlossenheit aus und wirkte trotz ihrer burschikosen Art auf ihre Weise verletzlich. Vielleicht war es die zierliche Gestalt bei beiden Frauen, die seinen Beschützerinstinkt herausgefordert hatte. Dabei hatte er Anna nicht einmal beschützen können. Es war eher umgekehrt gewesen. Sie war es, die ihn vor patrouillierenden Soldaten gerettet und bereits in der gleichen Nacht vor seinem Bett gestanden hatte, während ihr Vater nur einen Sprung weit entfernt im Nebenzimmer schlief. Sie hatte sich einfach zu ihm gelegt und ihm mit ihrem ausgehungerten, mageren Körper das gegeben, was er ein halbes Leben lang vermisst hatte.
    »Danach bin ich desertiert«, fügte er leise hinzu, »weil mir nichts anderes übrig blieb, als unterzutauchen.«

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