Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
man solche Dinge dort, wo du aufgewachsen bist, nicht verstehen kann.«
|239| »Du kennst dich also tatsächlich damit aus? Ich meine, weißt du, was ein Schamane zu tun hat? Ist er so etwas wie ein Priester?«
»Wenn du es ganz genau wissen willst, fragst du besser meinen alten Onkel Taichin. Er ist ein ausgebildeter Schamane, der noch den alten Initiationsritus vollzogen hat. Er gibt mir ab und an heimlich Unterricht, obwohl meine Großeltern strikt dagegen sind. Sie befürchten, dass die falschen Geister von meiner Seele Besitz ergreifen, für den Fall, dass ich dem Ruf der Ahnen folge. Taichin ist genau der anderen Meinung. Er denkt, ich kann mich nur gegen die Dämonen wehren, wenn ich stark genug bin, um ihnen die Stirn bieten zu können. Es ist nicht immer leicht, es den Dreien recht zu machen. Zusammen haben sie einen großen Einfluss auf mich«, fügte er lächelnd hinzu. »Für uns Ewenken ist die Familie sehr wichtig. Ohne die Sippe oder den Stamm war man früher in der weiten Taiga verloren, und auf die Erfahrung der Alten konnte man nicht verzichten. Sie sind uns heilig, wie unsere Ahnen, die uns auch nach dem Tode noch beistehen.«
»Ich habe nur meine Mutter«, stellte Viktoria mit einem Achselzucken klar. Gleichzeitig verspürte sie ein schlechtes Gewissen. Von Heiligkeit konnte bei ihrer Mutter keine Rede sein. Manchmal war sie ihr mit ihren ewigen Ermahnungen lästig, die verrieten, dass sie nicht loslassen konnte, obwohl ihre Tochter längst auf eigenen Füßen stand. Andererseits hätte sie zu gerne gewusst, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde, wenn sie sich tot geglaubt und von allen geächtet in einem endlosen Wald verstecken müsste.
»Auch du hast deine Ahnen«, bemerkte Leonid und schenkte ihr einen Blick, als ob er sie trösten wollte. Dann zwinkerte er ihr aufmunternd zu. Sie sah ihn nur an – schweigend, weil sie nicht wusste, was sie als überzeugte Atheistin auf eine solche Bemerkung erwidern sollte. Unvermittelt nahm er ihre Hand und küsste sie, dann schaute er ihr tief in die Augen. »Und wenn du willst, hast du jetzt mich.«
Ein flaues Gefühl beschlich Viktoria, als Leonid sich erhob, um Wasser von einer Quelle zu holen, die hinter dem Haus sprudelte. Als er hinausging, sah sie ihm nach. Er hatte ihr einen chinesischen Tee versprochen, der nichts weiter erweckte als ihre Lebensgeister, und das auf eine harmlose Weise.
Sie streckte sich unter der warmen Decke und vergrub ihre Nase in |240| dem Fell, das längst Leonids Geruch angenommen hatte. Es fühlte sich tatsächlich an wie ein Traum, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn ernst nehmen sollte. Aber vielleicht wirkte die Droge noch nach.
Erst ein Blick auf ihre Armbanduhr holte sie in die reale Welt zurück und bestätigte ihr, dass es höchste Zeit war, sich auf den Rückweg zu machen. In knapp drei Stunden wurde sie zum gemeinsamen Frühstück im Camp erwartet; falls sie nicht pünktlich erschien, würden nicht nur Rodius und Theisen sie vermissen.
Nachdem Leonid sich ausgiebig am Bach gewaschen hatte, stand er, die feuchten Haare zu seinem Zopf gebunden, barfuß und nur mit einem grauen Trägerhemd und einer Armeehose bekleidet in der Tür. Er sah einfach umwerfend aus, und am liebsten wäre Viktoria gleich bei ihm eingezogen – wenn die Welt ein wenig unkomplizierter gewesen wäre.
»Das Wasser ist herrlich frisch«, schwärmte er. »Du solltest es auch einmal versuchen.«
»Ich habe mein Mückenschutzmittel vergessen«, erklärte sie abwehrend.
Leonid lächelte. »Hier ist es nicht so schlimm wie draußen am See.«
Er ging zum Ofen, setzte den alten Wasserkessel auf und röstete Fladenbrot. Dann entnahm er einem selbst gezimmerten Birkenholzschränkchen einen irdenen Topf. Mit seinem Jagdmesser verteilte er die Butter, die sich darin befand, auf dem noch warmen Brot. Immer wieder schaute er auf und beobachtete Viktoria, während sie in ihre Kleidung stieg. Nachdem sie ihre olivfarbene Cargohose gegürtet hatte, zog sie ihre Socken über und schlüpfte in die knöchelhohen Trekkingstiefel. Danach hob sie den Kopf und entwirrte mit den Fingern ihr Haar. Als sie aufsah, begegnete sie Leonids Blick.
»Du siehst unglaublich schön aus«, sagte er leise. Beiläufig goss er das heiße Wasser in zwei blaue Emaillebecher, in die er zuvor löffelweise den Tee hineingegeben hatte.
»Danke.« Verlegen nahm sie den dampfenden Tee entgegen und lehnte im gleichen Atemzug das Brot ab, das er ihr anbot. »Ich möchte nichts
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