Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
wohlig zu knistern begann.
Mit ruhiger Hand servierte er den Tee, so dass jeder bald ein dampfendes Glas vor sich stehen hatte.
»Setz dich, Junge.« Taichin nahm dankend den Tee entgegen und wies Leonid einen Platz auf dem Teppich zu.
»Was hast du vor?« Vera Leonardowna wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus den Augenwinkeln und betrachtete ihren Bruder mit einer Mischung aus Angst und Argwohn.
Leonid kreuzte seine langen Beine und sah seinen Onkel erwartungsvoll an. »Ich höre.«
»Wie du weißt, gehen deine Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits auf zwei mächtige Schamanenfamilien zurück«, begann Taichin. »Die Familie deines Vaters gehörte zur Sippe des gewaltigen Maganhir und die deiner Mutter zur Sippe des mächtigen Tschutschana. Es ist keine Legende, dass beide Sippen nicht unbedingt das waren, was man als friedlich bezeichnen würde. Vor exakt einhundert Jahren beschloss unser Gott Ogdy, dem unseligen Treiben der beiden ein Ende zu setzen und ihnen endgültig zu zeigen, was es heißt, wenn man für seine Macht jegliche Menschlichkeit opfert. Er kündigte den mächtigen Dämonen, |295| die die Leiber der beiden beseelten, den Kampf an – und nicht nur ihnen. Noch etliche, weit weniger mächtige Dämonen waren über das Land gezogen und hatten das Seelenheil unzähliger guter Männer verwüstet, die bis dahin nicht einmal in ihren finstersten Träumen daran gedacht hatten, dass sie eines Tages zur Vernichtung der gesamten Menschheit beitragen könnten.«
Leonid sah besorgt zu seiner Großmutter hin, die bebend vor Aufregung das Glas an ihre Lippen setzte.
»Ich habe gedacht, das sei nur eine Legende«, bemerkte er an seinen Onkel gerichtet.
»Dein Urgroßvater Leonard, unser Vater, gehörte zu diesen guten Männern«, fuhr Taichin ungerührt fort. »Er befand sich zur falschen Zeit am falschen Ort, und er hatte sein tapferes Herz an die falsche Frau verschenkt.«
»Soll das eine Anspielung sein?« Leonid lächelte ein wenig ironisch.
»Nein, mein Junge«, erwiderte Taichin ernst und zog genüsslich an seiner Pfeife. »Soweit würde ich nicht gehen – obwohl euer Schicksal gewisse Parallelen aufzeigt. Es war die Ochrana, die berüchtigte Dritte Abteilung des Zaren, die ihn im Februar 1905 zusammen mit zwei Studenten nach Sibirien deportierte. In einem streng bewachten Lager, weiter unten im Pijaja-Gebirge, zwangen sie die jungen Männer, für die grausamen Zwecke der Regierung zu arbeiten. Dabei setzten sie deinen Urgroßvater und seine Leidensgenossen auf brutale Weise unter Druck. Falls sie sich den Befehlen der Kommandeure widersetzten, so erklärte man ihnen, müssten ihre Familienangehörigen dafür büßen. Lange Zeit hatte dein Urgroßvater keine Ahnung, für welche Absichten des Zaren er sein Wissen einsetzte, bis er und seine Kameraden eines Tages den wahren Grund ihrer Deportation erfuhren.«
Leise und eindringlich erzählte Taichin – von der Gier des Großfürsten Wladimir Alexandrowitsch und des damaligen Kriegsministers Alexei Nikolajewitsch Kuropatkin und von zwei mächtigen Schamanen, Tschutschana und Maganhir, wie sie gegensätzlicher nicht hätten sein können.
»Sie waren es, die letztendlich dem Traum des Zaren zur Wirklichkeit verhelfen sollten«, flüsterte Taichin heiser.
|296| Leonid nahm einen Schluck Tee, bevor er eine Frage stellte. »Waren es diese Männer um meinen Urgroßvater, die den Bunker am Kimchu anlegen ließen?«
»Ja«, antwortete Taichin bedächtig. »Es waren Zwangsarbeiter, die sich unter der Aufsicht gedungener Schergen des Zarenreiches die Hände blutig gruben.«
In der Hütte herrschte für einen Moment absolute Ruhe, nur das Knistern des Feuers war zu hören.
»Und welche Rolle spielten die Schamanen bei der Katastrophe von Tunguska?«
Leonid sah seinem Großonkel direkt in die Augen.
»Es war Ogdy, mein Junge, der letztendlich das Schicksal aller besiegelte. Nachdem Tschutschana dem Zaren die Unterstützung verweigert hatte, erschuf Maganhir an seiner Stelle ein gewaltiges Feuer, das den Forschern eine künstliche Explosion bescherte, wie sie sich in der Geschichte der Menschheit noch nicht ereignet hatte. Hinzu kam, dass das Unglück direkt über einem Gasfeld geschah, was niemand wissen konnte.«
»Und Leonard? Wie konnte er dem Inferno entkommen?«
»Tschirin, der Sohn Tschutschanas, hat ihm das Leben gerettet. Jahre später gab er Leonard als Vertrauensbeweis seine Tochter zur Frau. Deine Großmutter und ich
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