Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
eurem Kind zu uns holt?«
Leonard stieß einen Seufzer aus. »Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Die beiden wissen ja noch nicht einmal, dass ich noch lebe.«
»Vielleicht ist es besser so. Hast du daran schon einmal gedacht?«
Leonard sah sie aus schmalen Lidern an. »Wie kommst du darauf?«
|301| »Ich habe so was läuten hören.« Kissanka nippte an ihrem Malzkaffee, als ob es feinste Schokolade wäre.
»Was hast du läuten hören?« Leonard ergriff ihre linke Hand. Im Lichte der trüben elektrischen Deckenbeleuchtung sah er sie durchdringend an.
»Man munkelt, dass wir hier nie wieder wegkommen, schon gar nicht, wenn euer Projekt erst mal fertiggestellt ist.« Ihre unruhigen Augen verrieten, dass sie tatsächlich Angst hatte.
»Wer sagt so etwas?«
»Das tut doch nichts zur Sache, Leonard«, erwiderte sie gereizt. »Wichtig ist doch einzig und allein, ob derjenige, der es sagt, Recht behalten könnte. Es heißt, eure Arbeit sei so geheim, dass niemand außerhalb des Lagers etwas davon wissen dürfe, und du siehst selbst, wie streng wir bewacht werden. Keine Maus kommt hier herein oder heraus, ohne dass Lobow davon Kenntnis hätte. In anderen Lagern können die Insassen frei herumspazieren, ganz wie es ihnen passt. Nur hier nicht. Hast du dich je gefragt, warum das so ist?«
»Weil sie nirgendwo sonst eine Aufgabe haben, die über das Heuernten und das Reparieren von Landmaschinen hinausgeht.«
»Siehst du, dafür würde es sich auch nicht lohnen, einen einzigen Menschen bis an sein Lebensende in einem Lager zu halten. Aber das hier, Leonard, ist etwas ganz anderes. Entweder müssen wir bis zum Tod in dieser Hölle schmoren, weil sichergestellt werden muss, dass wir niemandem etwas verraten, oder diese Hölle wird eines Tages dem Erdboden gleichgemacht, sobald sie ihren Sinn erfüllt hat.«
»Solange es in dieser Hölle Engel wie dich gibt, die mir Brot und Butter zum Frühstück beschaffen und mir darüber hinaus den Himmel auf Erden versprechen, ist es halbwegs erträglich.« Leonard stand auf und lächelte. Dann nahm er noch einen letzten Schluck Tee und beugte sich zu ihr hinab, um ihr einen sanften Kuss auf die Wange zu drücken.
Mit leicht federndem Gang spazierte er hinaus. Kissanka presste indessen ihre Hand auf die Wange, als ob sie einen Schatz hüten wollte.
»Du glaubst mir nicht, Leonard Schenkendorff, und das ist ein großer Fehler«, rief sie ihm hinterher.
|302| Die Tage in der Konstruktionshalle waren hektischer geworden. Jeder der Anwesenden konnte Pjotrs Leistungen bestaunen. Gleich zwei riesige Luftschiffe, bei denen nicht nur das Skelett, sondern die gesamte Hülle aus spezialgehärtetem Aluminium bestand, waren beinahe bereit zum Auslaufen. Spätestens im Frühjahr würde der erste der beiden silberglänzenden Giganten zu einer Jungfernfahrt ins achthundert Werst entfernte Irkutsk aufbrechen, und im Sommer wollte man das geheime Experiment mit einem zweiten Luftschiff zum Abschluss bringen.
Aslans Arbeit hingegen fand in einer abgeschiedenen Baracke statt, die so groß wie ein Tanzsaal war und deren Fenster bei Tag verhangen wurden, damit niemand hineinsehen konnte. Des Nachts stellte man doppelte Wachen auf, so dass kein Unbefugter die hoch komplizierten technischen Aufbauten ausspionieren oder gar zerstören konnte. Lobow hatte gleich zu Beginn der Arbeiten die Weisung erteilt, dass niemand außer Kondrashov und Weinberg unangemeldet das Gebäude betreten durfte. Daher wusste auch nur Weinberg, der Aslans Arbeiten fortwährend protokollierte, dass dem geheimen Experiment noch eine entscheidende Komponente fehlte, um die vom Großfürsten gestellte Aufgabe erfolgreich realisieren zu können. Seit etwa einem Jahr beschäftigte sich der Turkmene mit Einsteins neuester Theorie über die Äquivalenz von Masse und Energie und mit der Überlegung, dass bei der Spaltung schwerer Atomkerne sehr viel mehr Energie freigesetzt wurde als bei der Explosion von Sprengstoff. Was ihm jedoch fehlte, war der entscheidende Ansatz, wie man diese Spaltung in Gang setzen konnte.
Obwohl Isaak Weinberg die Fortschritte seines jungen Kollegen bemerkenswert fand, beunruhigten ihn dessen Verzweiflung über das noch fehlende Element zur Fertigstellung seines Experiments und die gleichzeitige Suche nach – wie er es nannte – unseriösen Lösungen.
Erst am Morgen hatte Weinberg erfahren, dass man den Schamanen, der Leonard Schenkendorff von den Toten auferweckt hatte, hinzuziehen wollte. Mit
Weitere Kostenlose Bücher