Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
einen Blitz zu erzeugen?«
»Das wäre gelogen, was niemand besser weiß als Maganhir. Wenn er Wind von der Sache bekommt, wird er sich den Russen freiwillig zur Verfügung stellen, und sei es nur, um uns und unserem Stamm zu schaden.«
»Was haben sie denn überhaupt mit dir vor? Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie du denkst. Du lieferst ihnen den Blitz, den sie wollen, und damit sind sie zufrieden.« Tschirins Stimme klang hoffnungsvoll.
|299| »Nein, mein Sohn.« Tschutschana schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie haben sich etwas weitaus Schlimmeres ausgedacht. Die Geister haben es mir zugeflüstert, in jener Nacht, als ich den Jungen geheilt habe. Sie haben mich vor diesen Männern gewarnt. Sie werden die Welt zerstören, so wie unsere Väter sie gekannt haben. Eines Tages werden sie soviel Macht besitzen, wie noch kein Mensch auf der Erde zuvor, und sie werden alles in Grund und Boden vernichten, was uns Mayin, der höchste aller Götter, geschenkt hat.«
»Denkst du wirklich, Mayin würde das zulassen?«
»Es gibt Geister, die so düster und gefährlich sind, dass selbst Mayin vor ihnen zurückschreckt.«
»Ich dachte immer, er sei allmächtig?«
»Das ist er auch«, flüsterte Tschutschana. »Er sorgt dafür, dass die Welt im Gleichgewicht bleibt. Gut und Böse, Himmel und Hölle, ewiges Eis und nie enden wollende Wüste. Aber das heißt nicht, dass dieses Gleichgewicht nicht kippen könnte – zur einen oder anderen Seite.«
»Was willst du tun?«
»Ich werde mich weigern, den Russen zu helfen. Dann müssen wir abwarten, was passiert.«
Am frühen Morgen schlitterte Leonard im Dunkeln über den weitläufigen Hof, um zur Kantine zu gelangen. Erst gestern hatte es wieder geschneit. Durch die eisige Nacht war der Schnee binnen kürzester Zeit zu einer spiegelglatten Fläche erstarrt, bei der man selbst mit eisenbeschlagenen Fellstiefeln jederzeit auf dem Hosenboden landen konnte. Leonard war früher aufgestanden als sonst, weil er Kissanka einen Besuch abstatten wollte. Trotz der unschönen Vorkommnisse vor knapp zwei Jahren fühlte er sich immer noch freundschaftlich zu ihr hingezogen. Zumal sie einen hohen Preis für ihr Vergehen bezahlt hatte. Ihr Vater war wegen ihrer Lügengeschichte gestorben, und das Kind des Kosaken hatte sie wenig später bei einer Frühgeburt verloren. Einzig Bruder und Schwester waren ihr geblieben. Leonard empfand Mitleid für ihr hartes Schicksal, auch wenn sie mittlerweile in der Lagerhierarchie zur Küchenaufseherin emporgestiegen war. Sie schickte ein paar neu angekommene Mädchen, die ihr zur Hand gehen mussten, nach vorne in den Ausschank, während sie selbst mit Leonard im hinteren |300| Teil der Küche Platz nahm. Ihr Gesicht war reifer geworden, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tat.
Mit einem Lächeln schenkte sie ihm eine Tasse heißen Tee ein und gab ordentlich Zucker dazu. Dann legte sie eine extra Scheibe Brot und ein Stück Butter auf einen Holzteller und schob ihn zu ihm hin. Sie wusste nur zu gut, dass er den allmorgendlichen Buchweizenbrei verabscheute und dass dies auch ein Grund war, warum er es vorzog, in ihrer Gesellschaft zu frühstücken.
»Wenn du mich willst, kannst du mich jederzeit haben«, flüsterte sie mit einem Seitenblick auf die Mädchen, die draußen die Soldaten und Lagerinsassen bedienten. »Du kannst mir nicht erzählen, dass ein Mann von deinem Format keinerlei Bedürfnisse hat.« Ihre Augen blitzten herausfordernd.
Leonard fühlte sich geschmeichelt, wie jedes Mal, wenn er sie dabei erwischte, wie sie ihn eingehend betrachtete.
»Wir könnten uns nach Feierabend unten im Schuppen treffen, Leonard«, fuhr sie ungerührt fort. »Es gibt dort immer noch einen Tisch und ein Bett. Niemand würde es bemerken, und selbst wenn du mich schwängerst, hätte es keinerlei Konsequenzen. Mein Vater ist tot, und sonst interessiert es niemanden, wessen Kind hier geboren wird.«
Leonard ließ sich durch diese handfesten Avancen nicht aus der Ruhe bringen und biss in sein Brot..
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind«, sagte sie leise und entfernte ihr Halstuch, um ihm einen gefälligen Ausblick auf ihr üppiges Dekolleté zu gönnen. »Und es wäre schön, wenn es deine blauen Augen hätte.«
»Du willst anscheinend nicht aufgeben«, entgegnete er mit sanfter Stimme. »Und das Angebot ist wirklich verlockend. Aber die Konkurrenz ist zu groß.«
»Du hoffst also immer noch darauf, dass Lobow dein Mädchen mit
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