Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Taichin.« Sie sprach so leise, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch.
Taichin ging auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu beruhigen. »Ich dachte, du hättest es verbrannt? Aber was soll’s! Leonid hätte es sowieso irgendwann mal erfahren.«
»Hast du mir nicht zugehört!« Sie schrie ihren Bruder so heftig an, dass Leonid vor Überraschung zurückwich. »Es geht dabei nicht um Leonid, sondern um Lebenov und seine Männer. Wenn sie herausbekommen, was es damals mit der ganzen Sache auf sich hatte und sie erfahren, dass Leonid noch lebt, werden sie ihn jagen, und dagegen ist seine Mitwisserschaft im Tschetschenienkrieg eine Kleinigkeit.«
»Kann mir jemand sagen, um was es hier geht?« Leonid blickte verständnislos zwischen den zwei weißhaarigen Gestalten hin und her. »Um Aufzeichnungen«, stieß Vera seufzend hervor. »Eine Art Tagebuch. Dein Urgroßvater hat es einst verfasst. Ich hätte es vernichten sollen, aber ich habe es nicht über mich gebracht. Es ist das Einzige, was von ihm geblieben ist. Ich habe ihn einfach zu sehr geliebt, um es dem Feuer zu überlassen.« Sie flüsterte nur noch und sah Leonid mit ihren traurigen blauen Augen an. »So wie ich dich liebe, Wnutschok. Auch wenn du meinem Vater nur in Gestalt ähnlich siehst – du hast die gleiche Stimme und die gleiche Art, wenn du dich bewegst, es ist, als ob ich ihn direkt vor mir stehen sehe. Und wenn die Geister es schlecht mit uns meinen, wirst du für meine Liebe zu euch beiden bezahlen.«
»Was kann an einem Tagebuch so schlimm sein, dass man deshalb schier verzweifeln könnte?« Leonid strich ihr aufmunternd über die wirren Haare.
»Es ist kein gewöhnliches Tagebuch.« Sie sah zu Boden, als ob sie sich schämen müsste. »Dazu kommt die deutsche Frau, die mir nicht weniger Sorgen macht. Sie weiß von dir. Was ist, wenn sie Bashtiri erzählt, |291| dass du es warst, der sie gerettet hat und wo du zu finden sein könntest?«
»Warum sollte sie das tun?«
»Sie war bei uns in der Hütte und hat dich auf dem Foto erkannt.« Vera Leonardownas Stimme war die Verzweiflung anzuhören.
»Das wird sie nicht«, sagte Leonid flüsternd und drückte sie sanft an sich. »Sie ist eine anständige Frau.«
»Woher willst du das wissen?« In ihrer Stimme lag Protest, aber auch Verwirrung, weil Leonid keinerlei Argwohn hegte.
»Weil er letzte Nacht mit ihr geschlafen hat«, warf Taichin ungerührt ein. Dann nahm er seinen Rucksack ab und forderte mit einer Geste sowohl seine völlig verstörte Schwester als auch Leonid auf, endlich mit ins Haus zu kommen.
Vera hatte sich mit einem entsetzten Blick aus Leonids Umarmung gelöst und folgte ihrem Bruder wutschnaubend ins Haus.
»O Leonid!«, rief sie laut, dass selbst Ajaci den Schwanz einzog und sich winselnd hinterm Ofen verkroch. »Wie konntest du so etwas tun? Hast du den Verstand verloren?«
Leonid war seiner Großmutter mit einigem Erstaunen gefolgt. Sie stand in der Mitte des Raumes und sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
Taichin rang sich ein Lächeln ab. »Er ist ein Mann, Vera, kein Gott, vergiss das nicht.« In aller Ruhe zündete er sich eine Birkenholzpfeife an und ließ sich auf dem Boden nieder.
»Kann mir einer erzählen, was in euch gefahren ist?« Leonid wurde die Sache langsam zu bunt. »Und wenn es hier darum geht, Rechenschaft abzulegen, seid ihr beide noch vor mir dran.
Was hat diese Geheimniskrämerei zu bedeuten? Warum hat mir nie jemand etwas von diesem Bunker draußen am Kimchu erzählt?«
Vera wollte von neuem ansetzen, doch Taichin hob die Hand. Dann wandte er sich mit einer freundlichen Miene an seinen Großneffen, doch statt eine Antwort zu geben, brummte er: »Mach uns Feuer, Junge, und einen Tee. Ich glaube, wir können alle etwas Aufmunterung gebrauchen.«
Wieder nickte er seiner Schwester zu, während sich Leonid gehorsam ans Werk machte, in der vagen Hoffnung, dass sich seine Großmutter endlich beruhigen würde.
|292| »Es wird Zeit«, Taichin nahm einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife, »dass der Junge erfährt, woher er kommt und wohin er gehen wird. Du kannst sein Schicksal nicht aufhalten, auch wenn du es noch so gerne möchtest.«
Die Welt sah nach Untergang aus, als der weiße Helikopter mit Doktor Parlowa, Professor Olguth und der sedierten Studentin abhob, um sie in ein Krankenhaus in Krasnojarsk einzuliefern. Olguth hatte sich angeboten, mit einer weiteren Studentin seines Teams den Transport zu begleiten. Das glaubte
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