Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
ein Berserker, und es gelang ihm, sich den Soldaten zu entwinden. Doch im Lager warteten fünfzig weitere Soldaten auf ihren Einsatz, und so strömten andere nach, als Tschirin aus der Baracke |305| stürmte, nachdem er seine beiden Widersacher hinter sich gelassen hatte.
Mehrere Männer warfen sich auf den verzweifelten Tungusen, als Lobow zu seiner Trillerpfeife griff, die allen Offizieren zur Verfügung stand, um augenblicklich Alarm auszulösen. Grobschlächtige Finger rissen an Tschirins Felljacke. Jemand schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Er schmeckte Blut, und in seiner Panik riss er seinen Dolch vom Gürtel und stieß zu. Die Klinge durchbohrte eine dicke Filzjacke und drang in weiches Fleisch ein.
»Das Tungusenschwein hat ein Messer!«, brüllte jemand.
Im Nu ließ man von ihm ab. Tschirin kam keuchend auf die Füße. Alles drehte sich um ihn herum – die Baracken, die blau gewandeten Männer, die Pelzmützen der Soldaten, die sie ihm Gerangel verloren hatten und die um ihn herum auf dem schmutzigen Schnee lagen wie tote Kaninchen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er einen Soldaten, der sich die linke Seite hielt und davonhumpelte. Gleichzeitig ertönten das Ladegeräusch unzähliger Gewehre und die Aufforderung, sich sofort zu ergeben, andernfalls würde man ihn auf der Stelle erschießen.
Das halbe Lager war unruhig zusammengelaufen, und auch Leonard war auf den Tumult aufmerksam geworden. Zusammen mit Pjotr trat er nach draußen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wen man da gefangen genommen hatte. Wie betäubt beobachtete er, wie man Tschirin den Pelzmantel herunterriss und an seiner Lederkleidung zerrte, bis man ihn bis auf den Lendenschurz entkleidet hatte. Fast nackt und zitternd stand der Tunguse da. Das lange schwarze Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und bedeckte notdürftig seinen entblößten Rücken.
Lobow, der mit seinen Offizieren hinzugetreten war, rieb sich nachdenklich das Kinn, dann brüllte er: »Bringt ihn in die Arrestzelle!«
Leonard sprang nach vorne und rannte auf dem glatten Schnee zu Lobow hin. Vor dem Kommandeur rutschte er regelrecht auf die Knie. »Warum tun Sie so etwas?« Er schrie beinahe und umfasste die Beine des Kommandeurs. Sofort waren dessen Schergen zur Stelle und schlugen mit dem Gewehrkolben auf ihn ein.
Leonard stürzte und hielt sich die aufgeplatzte Wange, während das |306| warme Blut durch seine Finger rann und sofort gefror. »Was hat er getan, dass Sie ihn so behandeln?«
»Das geht Sie nichts an, Schenkendorff«, erwiderte Lobow mit aller Schärfe. »Wenn Sie mit mir über die Fortschritte Ihrer Arbeit sprechen wollen, lassen Sie sich von Doktor Primanov verarzten und kommen in meine Baracke. Ihre Kollegen sollen sich ebenfalls dort einfinden. Vielleicht werden Sie meine Maßnahme dann verstehen.«
Atemlos und vollkommen verwirrt, beobachtete Leonard, wie man Tschirin in das finsterste Loch im ganzen Lager führte. Hier war Wassiljoff gestorben – halb verhungert, wahnsinnig vor Angst und mit aufgebissenen Pulsadern.
Mit hängenden Schultern fanden sich Leonard und seine Kameraden wenig später bei Kommandant Lobow ein. Die Hoffnung, Tschirin aus seiner verzweifelten Lage befreien zu können, war bei Leonard gesunken, nachdem Aslan ihm gesagt hatte, was der Grund für dessen Festnahme gewesen sein könnte.
Lobow verzichtete darauf, ihnen einen Platz anzubieten.
»Der Tunguse hat einen meiner Leute mit dem Messer angegriffen«, erklärte er mit harter Stimme, so dass es beinahe wie eine Anklage klang.
»Mit Verlaub, Herr Kommandeur«, begann Aslan vorsichtig. »Denken Sie ernsthaft, der Schamane wird uns helfen, wenn wir seinen Sohn gefangen halten?«
»Ihr Schamane hat uns mit einer lapidaren Erklärung abgesagt.«
Lobow kniff die Lippen zusammen. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als zu drastischen Mitteln zu greifen. Wo soll es hinführen, wenn nicht einmal dieses Tungusenpack begreift, dass es wie alles in diesem Land der Macht des Zaren untersteht und sich dieser Macht zu fügen hat? Auch ein Tschutschana wird einsehen müssen, dass seine Fähigkeiten nicht unerschöpflich sind. Entweder hilft er uns, oder sein Sohn wird ziemlich bald einen qualvollen Tod sterben.«
Weinberg räusperte sich leise, bevor er zu sprechen begann. »Bei allem Respekt, Herr Kommandeur, der Junge hat doch niemandem etwas getan. Warum muss er sterben, nur weil sein Vater an notorischer Sturheit leidet? Gibt es wirklich keine andere
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