Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
hieß Svetlana und kannte Leonid seit seiner Jugend, wie sich bald darauf im Gespräch herausstellte, und hatte ihn wie ein eigenes Kind geliebt. Leonids Vater war eine kurze Zeit lang ihr Liebhaber gewesen. Einmal hatte sie ihn geistesgegenwärtig von hinten mit einer gusseisernen Bratpfanne bewusstlos geschlagen, als er im Vollrausch versucht hatte, seinen einzigen Sohn mit einem Brotmesser zu erstechen. Danach war sie ausgezogen und hatte Leonid kurzerhand mitgenommen. Daraufhin hatte sein Vater geschworen, sie beide umzubringen. Leonid hatte noch eine ganze Weile bei ihr gewohnt, immer in der Sorge, dass der Alte sein Versprechen wahrmachen könnte. Doch wenig später hatte sein Vater einen Schlaganfall erlitten, und Leonid hatte sich zur Armee gemeldet. Svetlana wäre beinahe geplatzt vor Stolz über seine Berufswahl. Als sie jedoch von seinem plötzlichen Tod erfahren hatte, wäre sie vor Schmerz fast gestorben, so groß war ihre Trauer gewesen.
Wie die meisten anderen Familienangehörigen war Svetlana nicht in |402| Leonids wahres Schicksal eingeweiht gewesen und hatte ihn für tot gehalten.
Mehr oder minder emotionslos erklärte ihr Leonid, dass sie in großer Gefahr schweben würden, wenn er und Viktoria sich nicht wenigstens bis zum Abend hier verstecken durften. Erst dann ging der Nachtzug nach Moskau. Ein Ziel, über das er und Viktoria noch gar nicht gesprochen hatten.
Svetlana und Leonid redeten noch eine ganze Weile. Leonid erzählte ihr wenig über die Gründe seiner Flucht. Davon, dass es Tote gegeben hatte und er in einem Helikopter von GazCom entkommen war, sagte er gar nichts.
Ab und an stellte Svetlana eine Frage an Viktoria, die Leonid ebenso knapp und stellvertretend für sie beantwortete. Sie sei eine Freundin, erklärte er karg. Offenbar wollte er nicht, dass Svetlana mehr über sie erfuhr als unbedingt notwendig. Und obwohl sie nicht den Eindruck vermittelte, dass sie Leonids Antworten zufriedenstellten, bot sie ihm und Viktoria wenig später ihr Schlafzimmer an, damit sie sich nach einer durchwachten Nacht bis zum Abend erholen konnten. Während die beiden noch in der Küche saßen, ging sie daran, das Bettzeug frisch zu beziehen.
»Was hast du vor?«, fragte Viktoria flüsternd, als sie sich einen Moment lang unbeobachtet glaubte.
»Wir werden dir heute Abend eine Fahrkarte nach Moskau kaufen. Es ist sicherer, mit dem Zug zu reisen. Die Kontrollen sind längst nicht so scharf wie auf den Flughäfen. Wenn du in Moskau angekommen bist, kannst du zu deiner Botschaft gehen und deine Ausreise organisieren. Deine Leute werden dich beschützen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der FSB es wagen wird, auf deiner Auslieferung zu bestehen, sobald du diplomatisches Terrain betreten hast.«
»Auslieferung?« Viktoria schauderte.
»Du befindest dich auf der Flucht«, erklärte er lapidar. »Mit einem gesuchten Terroristen. Glaubst du ernsthaft, Bashtiri würde den Sicherheitskräften die Wahrheit erzählen? Entweder wird er behaupten, dass ich dich abermals entführt habe – oder er wird dich der Mittäterschaft beschuldigen.«
An das, was geschehen würde, wenn sie selbst in die Hände der russischen |403| Polizei fiel, hatte Viktoria noch überhaupt nicht gedacht. Ihre einzige Sorge galt Leonid.
»Und was ist mit dir?« Ihre Hand tastete nach seiner Hand.
»Ich werde in den Untergrund gehen und mich durchschlagen. Nichts anderes habe ich bisher gemacht.«
»Aber was ist, wenn sie dich doch schnappen?« Sie schluckte. »Deine Großeltern können dir nicht mehr helfen, und du hast kein Geld und niemanden, der dich verteidigen könnte. Ich werde dich nie wieder sehen, und vielleicht wird man dich umbringen. Ich habe Angst, Leonid. Ich kann das nicht, hörst du?«
»Denk einfach nicht dran.« Er streichelte ihre Wange und beugte sich vor, um sie zu küssen.
Svetlana betrat unvermittelt die Küche und räusperte sich. »Ihr könnt euch jetzt zur Ruhe begeben. Ich werde euch nicht stören. Neben meiner Arbeit in einem Schönheitssalon habe ich noch eine Putzstelle in der Stadt und bin erst am Nachmittag zurück. Später können wir einen Tee trinken, bevor ihr aufbrechen müsst.«
Sie trug helle Pumps und ein rosafarbenes Kostüm, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Mit ein paar geübten Handgriffen ordnete sie sich das Haar. Sie zwinkerte Leonid zu und zeigte Viktoria kurz, wo das Bad und die Toilette zu finden waren.
Als die Tür ins Schloß fiel, ging Leonid hin und verriegelte
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