Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Svetlana nach Hause zurückkehrte. Leonid und Viktoria saßen – vollständig angekleidet und ähnlich brav wie Leonid nach seinen jugendlichen Eskapaden – in der Küche und tranken Kaffee.
Svetlana wirkte völlig aufgelöst. In dem Haushalt, wo sie am Nachmittag arbeitete, lief ständig der Fernseher, und so hatte ihr gar nicht entgehen können, dass man nach Leonid und Viktoria eine landesweite Fahndung eingeleitet hatte.
»Was hast du getan, Wuntschok?« rief sie außer sich vor Entsetzen, als sie Leonid völlig unvermittelt gegenübertrat.
Er stand langsam auf und blickte verständnislos auf sie herab.
»Was meinst du damit?«
»Die sagen, du hättest einen hochgestellten Offizier der GazCom umgebracht – dazu einen harmlosen Touristenführer und noch zwei weitere Menschen! Außerdem haben deine Komplizen vier Sicherheitskräfte von GazCom auf dem Gewissen, die man in einem Wald in der |410| Nähe von Vanavara gefunden hat.« Svetlana schrie fast und sah ihn so verächtlich an, als ob sie jeden Moment vor ihm ausspucken wollte.
Er fasste sie hart bei der Schulter und zwang sie, ihm ins Gesicht zu schauen.
»
Wer
sagt so etwas?«, fuhr er sie an.
Tränen standen in ihren Augen, bevor sie sich anschickte zu antworten.
»Im Fernsehen haben sie es in den Nachrichten gesagt. Sie haben Fotos von dir und dem Mädchen gezeigt und haben gemeint, du hättest sie mit einem Helikopter entführt.« Ein Seitenblick auf Viktoria sollte ihr wohl versichern, dass sie sich zu irren hoffte. »Sie suchen in ganz Russland nach euch! Den Helikopter haben sie draußen vor der Stadt sichergestellt. Die gesamte Gegend wurde abgesperrt, und nun kontrollieren sie den Flughafen und alle Bahnhöfe im Umkreis.«
»Setz dich!« Es war ein Befehl, und allein Leonids hünenhafte Gestalt machte ihrer aufgebrachten Gastgeberin klar, dass sie ihm zuhören musste, bis sie alles verstanden hatte. Ruhig und geduldig erklärte er ihr, was tatsächlich vorgefallen war. Vielleicht lag es an der Zuneigung, die Svetlana ihm zweifellos entgegenbrachte, dass er sie zunehmend davon überzeugen konnte, kein Verbrecher zu sein.
»Denkst du, sie haben deiner Babuschka etwas angetan?« Svetlana wagte diese Frage kaum zu stellen.
»Sie lebt«, behauptete Leonid hartnäckig. »Und sie kennt sich gut genug aus, um sich im Wald zu verstecken, und dann ist da auch noch mein Großonkel. Er wird sie nicht im Stich lassen.«
Svetlana sah ihn fassungslos an. »Ich mache mich strafbar«, flüsterte sie, »wenn ich euch zur Flucht verhelfe, aber mein Gewissen verlangt es von mir. Ich kenne da jemanden, der euch kurzfristig Pässe beschaffen kann. Es wird etwas kosten, aber ich habe gespart.« Sie stieß einen schweren Seufzer aus und bekreuzigte sich.
Leonid hielt ihre Hand und küsste dann ihre Wange, viel zärtlicher, als man es bei einer einfachen Freundin erwarten durfte.
Svetlana sah ihn prüfend an und strich über sein Haar. Dann schaute sie zu Viktoria hin. »Ihr könnt so nicht bleiben«, stellte sie tonlos fest.
»Wir müssen wenigstens etwas mit euren Haaren anstellen.«
Wenig später kehrte sie mit einer silbernen Beuteltasche zurück.
|411| »Ich bin gelernte Friseurin«, stellte sie vor Viktoria klar. »Ich werde euch jetzt die Haare schneiden und färben, damit euch niemand erkennt, wenn ihr zum Bahnhof geht.«
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31
Juni 1908, Sibirien – Versuchsstation
Bereits gegen vier Uhr morgens war Leonard auf den Beinen. Er hatte die halbe Nacht kein Auge zugetan. Vielleicht lag es an Pjotr und Weinberg, die mit ihm eine Kammer teilten und deren Schnarchen er nicht mehr ertragen konnte. Vielleicht lag der Grund aber auch in der jungen Prostituierten von gestern Abend. Nachdem sie den ersten hochgestellten Freier bedient hatte, folgten vier weitere, die allesamt nicht weniger pervers waren als ihr geschniegelter Kamerad. Deren Keuchen und Grunzen, das Klatschen einer Peitsche, die erstickten Schreie des Mädchens und das anschließende Wimmern hatte er mehrmals in der Nacht über den angrenzenden Flur hören können.
Wütend hatte Leonard die Zähne zusammengebissen, in dem Bewusstsein, gegen diese brutalen Kerle nichts ausrichten zu können, weil sie sich scheinheilig hinter hochdekorierten Uniformen verbargen.
Der Morgen war klar, und die Vögel zwitscherten, als Leonard endlich nach draußen gelangte, um sich hinter ein paar Büschen zu erleichtern. Einige Kosaken hielten vor ihren Zelten Wache. Sie saßen am Feuer, rauchten und
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