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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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eines Pferdefuhrwerkes zermalmt worden war. Von ferne hörte Leonard die Stimme seiner Mutter, wie sie ihn zum Essen rief, und die seines Vater, der ihn zu besseren Leistungen ermahnte. Und er sah Katja, ihr Puppengesicht, ihre herzförmigen Lippen, wie sie ihn mit politischen Parolen beschwatzte, die sie selbst nicht verstand, wie sie lachte, wenn er ihr seinen Unmut darüber zeigte, wie sie ihn anschließend verführte und küsste, ganz zart, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. Er spürte die Kälte an jenem Morgen in der Peter-und-Pauls-Festung, die Dunkelheit, und er hörte das ratschende Geräusch, das entstand, als die Gewehre geladen wurden. Angst und Ohnmacht spürte er gleichermaßen und das unbeschreibliche Glück, als Katja das Händchen seiner kleinen Tochter in seine viel größeren Hände legte.
    Das Atmen fiel ihm schwer, und während über ihm ein Tosen zu hören war, fühlte er, wie es Nacht um ihn wurde.
     
    |439| Drei Sekunden dauerte der Blitz, drei Minuten der Donner, drei Stunden der Sturm und drei Tage das Feuer. So erzählten sich später die Alten.
    Tschirin stand unweit von Vanavara am Rand eines Baches und wusch wie jeden Tag den Sand in der Pfanne, als es geschah. Ein Umstand, der ihm das Leben rettete. Im Nu brannten die Kleider auf seinem Leib, und nur ein Sprung ins kalte Wasser konnte verhindern, dass er bei lebendigem Leib verbrannte.
    Als er auftauchte, riss ihn ein fortwährendes Beben erneut von den Füßen und ließ ihn ins Wasser stürzen. Überall lagen Tierkadaver; der Gestank von versengtem Fell und verbranntem Fleisch war schier unerträglich.
    Zwischen den Tieren, am Ufer verstreut, lagen einige Menschen. Kleider und Haare verbrannt, stöhnten sie laut oder jammerten in einem fort; andere gaben keinen Laut mehr von sich. Offenbar waren sie tot. Tschirins einzige Sorge galt seiner Familie. Halb nackt rannte er ins nahegelegene Dorf. Ein paar schmutzige Zelte, zwei Jurten war alles, was er sein neues Zuhause nannte. Doch selbst das hatte der Sturm hinweggefegt. Die Hühner waren verbrannt, die Rentiere verendet. Katzen und Hunde kamen aus Löchern hervorgekrochen – unversehrt. Es war, als ob sie die Katastrophe vorausgeahnt hätten.
    Hinter einem Busch saß seine fünfjährige Tochter und hielt den einjährigen Bruder im Arm. Ihre Gesichter waren mit Ruß beschmiert, und die Spuren ihrer Tränen hatten unregelmäßige Muster auf ihre pausbäckigen Wangen gezeichnet. Tschirin stürzte auf die Kinder zu und rutschte vor ihnen auf die Knie. Er packte sie und drückte sie an sich.
    »Wo ist eure Mutter?« Seine Stimme war lauter als beabsichtigt. Der Kleine fing an zu weinen, und die Tochter deutete auf eine zerstörte Hütte. Tschirin sah, dass dort fast alle Frauen des Dorfes versammelt waren. Wie eine Traube knieten sie um eine weitere, am Boden liegende Frau. Seine Frau – sie lag in den Wehen. Das Kind kam zu früh.
    Die Geburt verlief blutig und rasch. Der kleine Junge überlebte noch nicht einmal den nächsten Tag. Tschirins Frau weinte nicht, und er hatte Angst, dass sie auch sterben könnte, denn sie redete nicht. Die alten Frauen des Dorfes kümmerten sich aufopfernd um sie und die Kinder. Ein paar starke Männer hatten in kürzester Zeit die zerstörten |440| Zelte aufgerichtet, und so bekam das menschliche Leben im Dorf recht schnell jene Routine, die es vor der Katastrophe gehabt hatte. Die menschlichen Verluste waren bis auf das Kind gering. Die toten Tiere stellten hingegen einen herben Verlust dar. Es würde dauern, bis die Menschen ihren bescheidenen Wohlstand wiedererlangt hatten. Spekulationen blühten. Gott Ogdy hatte stählerne Donnervögel zur Erde geschickt, um den Menschen eine Lektion zu erteilen. Zwei bedeutende Schamanen wurden vermisst. Dabei hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, was wirklich geschehen war. Niemand – bis auf Tschirin.
    Am vierten Tag nach der Katastrophe sattelte er ein Rentier, und obwohl ihm alle davon abrieten, nicht nur weil der Zustand seiner Frau mehr als beklagenswert war, brach er auf, um nach Leonard und seinen Kameraden zu suchen. Im Traum hatte er Leonard in einer Höhle liegen gesehen. Außerdem war ihm Tschutschana erschienen. Also war er tot. Anders konnte sich Tschirin die Erscheinung, die so echt gewesen war, als hätte ihm der Vater gegenübergesessen, nicht erklären. Er hatte in den Reihen der Ahnen gestanden und ihn um Verzeihung gebeten und ihm dabei angekündigt, dass aus seiner Familie schon

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