Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
sich seiner gestreiften Krawatte und machte eine Leine daraus, die er Ajaci mit ein paar beruhigenden Worten um den Hals legte. Ajaci wehrte sich, indem er daran zerrte und sich unentwegt schüttelte. Doch Leonid blieb standhaft. Er kniete sich zu dem Hund hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Danach beruhigte sich das Tier erstaunlicherweise.
»Was hast du ihm gesagt?« Viktoria sah Leonid verblüfft an, während die beiden sich an einer Menschenschlange anstellten, um Fahrkarten nach Moskau zu kaufen.
»Ich habe ihm angedroht, dass ich ihn bei Svetlana lasse, wenn er nicht gehorcht.«
»Das würdest du nicht, oder?«
»Nein.« Leonid schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Er gehört zu mir, wie mein Herzschlag. Er ist meine Zwillingsseele. Jeder Schamane hat ein Tier, mit dem er sich tief verbunden fühlt. Taichin hat ihn mir als Welpen geschenkt, nachdem ich aus Tschetschenien zurückgekehrt war. Er sagte, er sei mein Bruder. Solange er lebt, würde ich auch leben.«
»Hunde leben aber nicht besonders lange.« Viktoria rückte ein Stück in der Schlange vor.
»Schamanen gewöhnlich auch nicht«, erwiderte er trocken.
»Aber du bist doch gar kein richtiger Schamane, oder habe ich da etwas falsch verstanden?«
»Nein, und einer der Gründe ist, dass ich mindestens so alt wie mein Großonkel werden möchte.«
Die Frau am Schalter verlangte tatsächlich ihre Pässe. Viktorias Hände zitterten, als sie ihr Svetlanas Pass vor die Nase legte. Die Frau achtete jedoch gar nicht auf das Dokument. Sie stempelte routinemäßig die Fahrkarten ab und hämmerte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf die Computertastatur ein. Dann gab sie Viktoria den Pass zusammen mit einem Faltplan zurück, bei dem man die einzelnen Stationen entnehmen konnte.
|433| In einem kleinen Laden erstand Viktoria für sich und Leonid Zahnbürsten und Waschzeug, dazu drei Dosen Hundefutter für Ajaci.
Leonid neckte sie grinsend, als sie den Bahnsteig erreichten. »Man merkt, dass du aus Deutschland stammst.«,
»Was willst du damit sagen?«
»So wie es mir scheint, bist du ziemlich durchorganisiert und überlässt nichts dem Zufall.«
»Ist das ein Fehler?«
»Im Prinzip nicht – wenn du nicht etwas vergessen hättest.«
»Was denn?«
Mit einem triumphierenden Lächeln hob er seine Hand und präsentierte ihr einen Dosenöffner.
»Wo hast du denn den her?« Erst da fiel ihr auf, dass sie ihm gar kein Geld gegeben hatte. So wie es aussah, hatte er das Teil einfach geklaut.
»Sagen wir, ich dachte, es fällt sowieso niemandem auf, wenn das Ding im Regal fehlt.«
»Oh, Leonid!« Sie senkte beschämt den Kopf und zückte dreitausend Rubel, die sie ihm mit einer Miene des Bedauerns entgegenhielt.
Er lachte leise und strich ihr, anstatt das Geld entgegenzunehmen, über die Wange. »Danke, das brauche ich nicht. Zumindest solange, wie ich dich in meiner Nähe weiß.«
Auch auf dem Bahnsteig gab es Kontrollen, doch wie durch ein Wunder blieben Viktoria und Leonid unbehelligt.
Schon wieder dudelte das Telefon. Eine russische Nummer.
Doch bevor sie den Anruf entgegennehmen konnte, riss Leonid ihr das Telefon aus der Hand und schaltete es ab.
»Auf diese Weise kann der FSB sofort feststellen, wo wir sind. Ein Anruf, und sie haben dich geortet.«
»Aber …« Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch dachte sie an den Anruf ihrer Mutter. »Woher haben die denn meine Nummer?«
»Hast du ein Einreiseformular ausgefüllt?«
»Ja.« Sie sah ihn irritiert an.
»Wurde dort nach deiner Adresse und deiner Telefonnummer gefragt?«
»Ja, aber …«
Leonid schüttelte den Kopf. »Sie wissen alles über dich, und normalerweise |434| bleibt kein Schritt, den du in diesem Land machst, unbeobachtet. Du hast es bei Kolja gesehen. Niemand im Camp schien davon zu wissen. Bashtiri und Lebenov dachten wahrscheinlich, dass der russische Professor oder einer seiner Assistenten die Aufgabe des Aufpassers übernehmen würde.«
»Kolja hatte noch andere Aufgaben.« Viktorias Blick verriet Resignation. »Aber selbst das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr.«
Rasch kam sie zu dem Schluss, dass sie Leonid nichts vom Anruf ihrer Mutter erzählen würde. Im Nachhinein hoffte sie, dass der anscheinend allgegenwärtige russische Geheimdienst nichts davon mitbekommen hatte. Leonid hielt sie bestimmt für naiv, weil sie von solchen Dingen nicht die geringste Ahnung hatte.
Wenig später richteten sie sich in ihrem Abteil ein, das sie glücklicherweise für sich ganz
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