Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
»Ich muss Sie zum Verhör mitnehmen – alle beide. Ich lasse Sie morgen früh gegen halb neun mit einem Wagen abholen. Danach fliegen wir mit dem Helikopter nach Krasnojarsk, und um zwölf geht es mit einem Flugzeug nach Moskau. Dort werden wir uns am Nachmittag im Hauptquartier des FSB zu einem Gespräch mit meinem vorgesetzten Offizier einfinden. Packen Sie ein paar Sachen zusammen und halten Sie sich bereit.«
Im Hotel, in dem Pokrovskij sich selbst und seine Leute einquartiert hatte, suchte er Professor Rodius auf. Von dem Deutschen wusste er, dass er sich ebenfalls an die Polizei von Vanavara gewandt hatte, weil er seit gestern seine Kollegin Doktor Vanderberg vermisste. So wie es aussah, hielt Aldanov sie in seiner Gewalt.
Der Professor war nicht alleine in seiner Suite. Doktor Sven Theisen, ein großer blonder Mann, den er als seinen Assistenten vorstellte, saß reichlich derangiert neben ihm. Erst am Nachmittag hatte man ihn aus der Krankenstation entlassen; ein Arm und ein Bein waren eingegipst.
»Wie ist das passiert?« Pokrovskij sah ihn fragend an.
Theisen erzählte etwas von einem geheimnisvollen Bunker und einem Schacht, in den er hineingefallen sei. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird«, erklärte der Deutsche aufgebracht, »aber ich muss kein Angehöriger des Geheimdienstes sein, um eine Ahnung zu haben, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.«
|437| »Wir werden uns der Sache annehmen«, erwiderte Oberst Pokrovskij kühl. »Ich schlage vor, Sie begleiten uns morgen nach Moskau. Wir werden Sie dort der deutschen Botschaft überstellen. Ihr Projekt wurde von offizieller Seite gestoppt. Unter den gegebenen Umständen hat es im Moment keinen Sinn, weiterzuforschen.«
Rodius erhob seine Stimme, um Protest einzulegen, doch Pokrovskij kam ihm zuvor.
»Sparen Sie sich Ihren Unmut für einen späteren Zeitpunkt auf. Ich bin nur ausführendes Organ. Alles Weitere wird Ihnen der deutsche Militärattaché mitteilen.«
»Leonid?« In ihrer dunklen Schlafkoje war nur das Rattern der Eisenbahnräder zu hören. Eine große Hand tastete sich unter der Decke zu ihren Brüsten hin und streichelte sie sacht. Dann küsste Leonid voller Zärtlichkeit ihren Nacken und bereitete ihr damit eine wohlige Gänsehaut, die ihren gesamten Körper erfasste.
»Ja?«
»Was ist wirklich geschehen, damals in Tunguska? Du weißt es doch, oder?«
»Das ist eine längere Geschichte«, antwortete er leise. »Und sie ist kompliziert.«
»Wir haben drei Tage Zeit.« Viktoria lächelte. »Und ich brenne darauf, es zu erfahren.«
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33
Juli 1908, Sibirien – Totes Land
Später würde sich Leonard daran erinnern, dass er den Berg hinuntergeritten war. Dass er Pjotr, Aslan, Weinberg und die Gesandten des Zaren auf dem Hügel in dem Ausguck zurückgelassen hatte. Dass kein Abschied stattfand, weil er spät dran war und sich beeilen musste, in den Bunker zurückzukehren. Dass er von einer Kosakeneskorte hinunter ins Tal begleitet worden war.
Über einen oberirdischen Einstieg war er in den Bunker geklettert. Hastig widmete er sich seinen Aufzeichnungen und überzeugte sich |438| vom ordnungsgemäßen Kurs des Luftschiffs. Ein letztes Mal schaute er auf die Uhr. 7.15 Uhr.
Ein leichtes Zittern ließ Leonard aufhorchen und auf den Seismographen schauen. Der nächste Ausschlag war so unglaublich, dass er erschrak, und bevor er sich wundern konnte, zerriss ein gewaltiger Schlag die Stille. Er spürte, wie es in seinen Ohren dröhnte und es ihn von den Füßen hob; er spürte die Hitze, die Haare und Haut versengte und den Staub in glühenden Atem verwandelte. Dann folgte ein Grollen und Poltern, als der Bunker Risse bekam und einbrach. Und immer wieder bebte die Erde, erzitterten die Wände und Mauern und schüttelte ihn durch, als wäre er ein hilfloser Käfer, der auf dem Rücken lag.
Leonard wollte aufstehen und fliehen, doch eine gesteigerte Erdanziehungskraft hielt ihn fest am Boden. Zur körperlichen Ohnmacht gesellte sich eine beängstigende Auflösung des Geistes, die er schon kannte und weit angenehmer in Erinnerung hatte. Wie ein reißender Fluss umspülte der rasende Lauf der Zeit seine Sinne. Dabei ging es nicht vorwärts, sondern rückwärts. Stimmen hallten in seinem Gedächtnis von längst verstorbenen Menschen. Die Gesichter seiner Großeltern tauchten auf, und die von längst verstorbenen Onkeln und Tanten, dann das Bild eines frühen Freundes, der vor seinen Augen unter den Rädern
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