Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
bald ein neuer Schamane hervorgehen würde. Weder Leonard noch seine Begleiter waren in die Stadt zurückgekommen, obwohl das Hinterland lichterloh gebrannt hatte. Wenn Leonard immer noch in der Versuchsstation am Kimchu war, würde er ihn finden.
Tschirin glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er mit dem braven Rentier über das tote Land ritt. Es gab keine Bäume mehr. So weit das Auge reichte, lagen die Stämme am Boden oder waren umgeknickt wie Grashalme, gebrochen vom Wind. Ihre verkohlten Reste streckten sich wie mahnende Finger zum Himmel. Überall lagen Tierkadaver. Bären, Elche, Luchse, Wölfe. Zerschmettert, verkohlt und mit aufgebrochenen Leibern. Der Gestank des Todes war beinahe unerträglich.
Vereinzelt begegneten ihm lebendige Exemplare, die verstört, mit verbranntem Fell zwischen noch glühendem Holz umherstreunten. Ihre Seelen waren geflohen, und Dämonen bevölkerten ihre schutzlosen Leiber, wie Tschirin an ihren stumpfen Augen erkennen konnte.
Als er den Fluss unterhalb des Hügels endlich erreichte, bot sich ihm ein weiteres Bild des Grauens. Der Kimchu hatte sein Flussbett verändert. Dort, wo zuvor eine sanfte Biegung den Hügel umrundete, klaffte |441| ein schlammiges Loch, in dem sich ein kleiner See gestaut hatte. Ganz in der Nähe fand Tschirin die Leichen von sieben Kosaken. Ihre Körper waren so schwarz und aufgedunsen wie die ihrer Pferde, die unweit entfernt lagen. Hier musste es sein. Oben auf dem Hügel hatte einmal ein Bauwerk gestanden. Die Kuppe samt Hang war abgerutscht und lag nun am Ufer des Sees. Teile eines ehemaligen Antennenmastes, wie Tschirin ihn aus dem Tal ohne Wiederkehr kannte, lagen umgestürzt und abgeknickt halb im Wasser.
Immer wieder wurde Tschirin von Hustenattacken geschüttelt, und selbst sein Rentier atmete schwer. Es roch nach Schwefel und Rauch, und die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können.
Tschirin schloss vor Verzweiflung die Augen und betete zu Mayin.
Bitte, großer Gott, lass Leonard leben. Ihn und seine Kameraden.
Als er aufschaute, fiel sein Blick auf einen kleinen Hügel jenseits des Flusses. Von dort oben hatte man einen guten Ausblick über den See.
Dort angekommen, zügelte er sein Rentier und stieg ab. Nach einer Weile des Umherstreifens fand er eine abgebrochene Fahnenstange mit der verkohlten Flagge des Zaren und daneben einen verschütteten Einstieg.
Der Weg durch den Bunker war schaurig. Hier und da ein lebloser Körper – Arbeiter aus dem Lager und auch der eine oder andere Kosake.
Leonard hier lebend zu finden würde an ein Wunder grenzen. Jedoch – Wunder konnten durchaus geschehen, man musste nur fest genug daran glauben.
Als er eine Art Haupthalle erreichte, sah er den hochgewachsenen Deutschen am Boden liegen. Zusammengekrümmt und reglos kauerte er zwischen den Trümmern eines merkwürdig anmutenden metallischen Aufbaus.
Tschirin kniete nieder und zückte die Wasserflasche. Erst dann streckte er die Hand aus, um die Stirn des Mannes zu berühren. Sie war kühl, aber nicht so kühl, als ob der Tod bereits Einzug gehalten hätte. Tschirin hob den Kopf des Bewusstlosen an und legte ihn in seinen Schoß. Er benetzte das ausdruckslose Gesicht mit Wasser und sprach leise tungusische Worte. Dann setzte er die Flasche an die ausgetrockneten Lippen, und Leonard begann erst zaghaft, dann immer gieriger mit geschlossenen Augen zu trinken.
|442| Tschirin strich ihm vorsichtig über die verbrannten Haare, die nur noch in Stoppeln von Kopf und Kinn abstanden.
»Wo bin ich?« Die Stimme war schwach.
»Keine Sorge«, flüsterte Tschirin von Tränen gerührt. »Ich bin’s, Tschirin. Ich bringe dich nach Hause.«
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34
Juni 2008, Tunguska – Enthüllungen
Gegen vier Uhr morgens hatten Leonid und Viktoria immer noch nicht in den Schlaf gefunden. Ajaci hatte sich wie selbstverständlich auf das gegenüberliegende Bett verzogen und schnarchte leise.
Die beiden lagen unterdessen eng umschlungen auf der anderen Pritsche des Eisenbahnabteils und waren sich dabei so nah, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. Mit ruhigen Worten hatte Leonid die Geschichte aus dem Tagebuch seines Urgroßvaters wiedergegeben, so wie Taichin sie ihm vor wenigen Tagen erzählt hatte. Viktoria schaute ihm unentwegt in die dunklen Augen.
»Leonid, weißt du, was du mir da erzählst?« Ihre Stimme verriet ihr ungläubiges Staunen. »Bei der Explosion wurden 2 200 Quadratkilometer Land verwüstet und Millionen von Bäumen
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