Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
alleine beziehen konnten.
Eine Schaffnerin mit einer überdimensionalen Turmfrisur verteilte Bettlaken und Bezüge an die Reisenden, und nachdem sich jeder häuslich eingerichtet hatte, karrte sie ein Wägelchen mit einem schmauchenden Samowar durch den Gang, aus dem sie schwarzen Tee anbot. Außerdem hatte sie Kuchen und gefüllte Pasteten zu verkaufen.
Nachdem sie sich mit Tee und Gebäck eingedeckt hatten, servierte Viktoria ihrem vierbeinigen Begleiter voller Vorfreude das Hundefutter in einer übrig gebliebenen Pappschachtel .
Ajaci rümpfte die Nase, und Leonid schüttelte lachend den Kopf.
»Das kennt er nicht. Am liebsten frisst er getrockneten Fisch. Manchmal befürchte ich, er denkt, er sei eine Katze.«
Viktoria hielt dem Hund ein Stück Lachspastete hin, die sie bei der Schaffnerin erstanden hatte. Vor lauter Aufregung verspürte sie keinen Hunger. Mit einem Biss war die Pastete verschwunden. Ajaci leckte sich ausgiebig die Schnauze, bevor er sich wieder hinsetzte und seine Gönnerin mit schräg gelegtem Kopf erwartungsvoll anschaute. »Denk nur nicht, du kannst sie mir abspenstig machen!« Leonid bedachte den Rüden mit einem strafenden Blick, doch dann lächelte er und nahm Viktoria in die Arme.
Sein lang anhaltender Kuss raubte ihr den Atem, und er löste sich erst wieder von ihr, als der Zug langsam anfuhr und im Abendlicht den rötlich glitzernden Jenissei überquerte.
|435| Oberst Pokrovskij war überrascht, als er im Ewenkendorf auf eine Bestattungsprozession stieß. Etwa dreihundert Menschen hatten sich mit Kerzen und Fackeln eingefunden, um dem Stammesältesten Makar Charitonowitsch Schirov an einem geheimen heiligen Platz die letzte Ehre zu erweisen.
»Sind Sie die Gattin des Verstorbenen?«, sprach der Oberst die alte Frau an der Spitze der Prozession an.
Vera Leonardowna nickte stumm. An ihrer Seite ging ein noch älterer Mann, dessen Gesichtszüge gewisse Ähnlichkeiten zu ihr aufwiesen. »Es tut mir leid. Ich muss Sie sprechen, sobald die Zeremonie beendet ist«, erklärte der Oberst.
Der Alte nickte beiläufig. »Sie müssen Geduld haben«, sagte er nur.
Seltsam berührt beobachtete Pokrovskij den Auftritt des Mannes, wie er wenig später um ein großes Lagerfeuer tanzte und die Trommel schlug. Dabei machte er tierisch anmutende Laute, und immer wieder umrundete er den Sarg des Toten. Die übrigen Trauergäste, ausnahmslos Einheimische, verfolgten in stummer Faszination das Geschehen.
Pokrovskij blickte, umringt von seinen Männern, ins flackernde Feuer, und bei hereinbrechender Dunkelheit verwandelten sich die Flammen vor seinen Augen in tanzende Gestalten mit dämonischen Fratzen. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf. Ein Blick in die Runde ließ die Gesichter der Anwesenden zu Masken erstarren, die ihn aus dunklen, glänzenden Höhlen anschauten. Gehetzt schaute er auf, um sich seiner Begleiter zu versichern, die wie hypnotisiert das Geschehen verfolgten. Er gab einem unheimlichen Drang nach, den Kreis zu verlassen und zum Wagen des Kapitans zurückzukehren, den er leihweise übernommen hatte. Im Handschuhfach hatte er eine kleine Metallflasche mit Wodka entdeckt. Gierig genehmigte er sich einen großen Schluck und stieg erst wieder aus, als das Feuer nach einer guten Stunde heruntergebrannt und die Trauergesellschaft mit dem Leichnam im Wald verschwunden war.
Pokrovskij wartete geduldig auf die Rückkehr der alten Frau und ihrer Begleiter. Ein Dorfbewohner hatte ihm erklärt, dass der Stammesälteste und Ehemann von Vera Leonardowna überraschend verstorben war und dass die einheimischen Ewenken ihre Toten an geheimen Plätzen beerdigten, die meist im Wald versteckt lagen und zu |436| denen kein Unbefugter Zutritt erhielt. Nachdem Vera Leonardowna Schirova eine gute Stunde später wieder an ihrer Jurte aufgetaucht war, ließ sich Pokrovskij in ihre Hütte bitten. Der alte Mann an ihrer Seite, Taichin Schenkov, war nicht nur ihr Bruder, sondern allem Anschein nach der Mann, der sich mit schamanischen Riten auskannte.
»Wissen Sie, dass Ihr Enkel noch lebt?«
Die alte Frau bedachte Pokrovskij mit einem verstörten Blick. »Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass wir soeben meinen Mann beerdigt haben.« Ihre Stimme klang bitter. »Wie können Sie es wagen, mein Herz mit einer solch ungeheuerlichen Behauptung zu belasten. Ich bin achtzig, keine achtzehn, Herr Offizier.«
»Es tut mir leid«, sagte er mit einem ehrlichen Ausdruck des Bedauerns in seinen hellen Augen.
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