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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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schüttelte mutlos den Kopf, bevor er von neuem ansetzte. »Advokaten sind teuer und korrupt dazu. Das weiß doch jeder halbwegs normal denkende Mensch. Und wer kann finanziell schon mit dem Zarenregime mithalten?«
    »Ist das nicht merkwürdig?« Leonard kratzte sich den Bart, in dem beunruhigenden Verdacht, dass sich darin bereits Läuse eingenistet hatten. »Ausgerechnet zwei Studenten des Polytechnischen Instituts werden von der Ochrana verhaftet und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Richtung Sibirien verschickt.« Er schluckte und sah Pjotr direkt in die braunen Augen. Für ein Moment hatte sein Blick eine starre Richtung angenommen, und er fixierte seinen unfreiwilligen Leidensgenossen fragend.
    »Warum wir beide?«, bohrte Leonard weiter. »Was haben die mit uns vor?«
    »Keine Ahnung«, flüsterte Pjotr nachdenklich. »aber irgendetwas sagt mir, dass dies keine Vergnügungsreise wird, auch wenn die Bedingungen nicht ganz so schlecht sind, wie ich befürchtet hatte.«
    »Der Teufel kommt oft in goldenen Pantoffeln daher, damit man seinen Pferdefuß nicht sieht, hat meine Großmutter immer behauptet.« Leonard schloss für einen Moment müde die Augen, bevor er aufblickte und seinen Mitreisenden mit einem ironischen Grinsen bedachte.
    Pjotr kniff die Lippen zusammen, dann stieß er einen lang gezogenen Seufzer hervor. »Und was machen wir, wenn die alte Dame recht behält?«

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    4
    Juni 2008, Tunguska – Im Rausch der Tiefe
    Ein liebevoller Blick, und die faltige Hand von Vera Leonardowna Schirova streichelte zärtlich über das schwarze, glatte Haar des schlafenden Mannes. Sanft fuhren die Finger der alten Frau weiter über die hohen Wangenknochen und dann über den weichen Stoppelbart, der das markante Kinn bedeckte. Ihre Gedanken kehrten zu jenem Tag zurück, an dem sie ihn zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Klein |63| und verschrumpelt war er vor fast dreißig Jahren mit zornigem Geschrei dem Schoß ihrer völlig erschöpften Tochter entschlüpft – nicht freiwillig, sondern nach tagelangem Ringen und nur mit roher Gewalt. Seine Mutter hatte es das Leben gekostet, und ihn selbst hatte dieser Umstand als Halbwaisen zurückgelassen. Ein denkbar schlechtes Omen, wie der alte Schamane am Totenbett der jungen Frau orakelt hatte. Ein böser Geist sei noch vor der Geburt in das Kind gefahren und habe es mit dämonischen Kräften beseelt.
    »Ein neuer mächtiger Schamane hat das Licht der Welt erblickt«, krächzte der Alte mit glasigen Augen und meinte damit das unschuldige Bürschchen, dessen Hunger zunächst mit warmer Pferdemilch gestillt werden musste und nicht mit Blut, wie es der alte Mann geifernd verlangte. Das anschließende, drei Tage andauernde Reinigungsritual – bestehend aus ununterbrochenem Getrommel und dem Ausräuchern der Hütte – hatte die bösen Geister zwar mit Mühe vertrieben, aber dafür das Kind nachhaltig geschwächt. Nur mit viel Geduld und der Hilfe eines Gottes, auf den der alte Schamane mit Hochmut herabsah, hatte die Großmutter um das Überleben des Jungen gekämpft. Die Rettung des Kleinen war jedoch – wie alles in der Geisterwelt der Tungusen – nicht umsonst zu bekommen gewesen. Acht ältere Geschwister starben binnen kurzer Zeit an Kehlkopfdiphterie. Damit waren es neun Verwandte, die das Leben des Kindes gekostet hatte. Ein weiteres Zeichen, wie der alte Schamane düster bekannte. »Der Geist des wiedergeborenen Schamanen unterbricht den Weg, auf dem das Unheil zu ihm kommen kann. Ein anderer Geist, der ihm das Leben geschenkt hat, verlangt ein Opfer aus den Reihen der Sippenangehörigen.«
    Eine Kuh, die neunmal gekalbt hatte, musste dran glauben. Das schreiende Baby wurde am ganzen Körper mit ihrem Blut gezeichnet.
    »Lasst ihn zum Mann reifen und die Geister der Unterwelt werden ihm zugetan sein«, prophezeite der Alte den ängstlichen Großeltern, »und dabei wird er mehr Macht besitzen als all seine Vorfahren!«
    Doch das Schicksal hatte es nicht ganz so schlecht mit dem winzigen Säugling gemeint, wie zunächst befürchtet. Wenigstens besaß er die liebevollsten Großeltern, die man sich vorstellen konnte. Und aller schlechten Vorzeichen zum Trotz wurde aus dem kleinen Jungen kein bösartiger Gnom, sondern ein freundlicher Kerl mit einem angenehmen |64| Wesen, der die meisten Männer der Sippe um mehr als Haupteslänge überragte.
    Für einen Moment ruhte die Hand der alten Frau auf seiner mächtigen Schulter, und ein Lächeln flog über ihr Gesicht,

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