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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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als sich die Lippen des Mannes kräuselten und er mit geschlossenen Augen ein wohliges Brummen von sich gab.
    »Wie spät ist es, Babuschka?« Blinzelnd öffnete er die Augen und schaute sie fragend an.
    »Hast du gut geschlafen, Wnutschok?« Sie überging seine Frage und nannte ihn leise bei seinem Kosenamen, dann küsste sie ihn leicht auf die Stirn, bevor sie sich seufzend erhob. Kurz darauf kehrte sie mit einem dampfenden Glas Tee zurück, das sie dem schmauchenden Samowar auf der alten Kommode entnommen hatte. Behutsam setzte sie das Glas samt Untertellerchen auf einem kleinen Tisch ab, bevor sie sich erneut zu der Kommode begab und einen trockenen Brotfladen mit Butterschmalz bestrich.
    Auf einem weiteren Teller servierte sie ihrem einzigen Enkel den Fladen zum Tee.
    »Du musst etwas essen«, bemerkte sie fürsorglich und mit Blick auf seine ansehnlichen Arm- und Beinmuskeln, die er genüsslich streckte und dehnte. Geschäftig ging sie zu ihrer üblichen Hausarbeit über, obwohl die Stube alles andere als unordentlich wirkte. Das Mobiliar in der geräumigen Hütte war karg, und zu putzen gab es nicht viel. Vor knapp hundert Jahren hatten ihre Vorfahren das Haus aus Holz, Erde und Tierfellen erbaut. Makar Charitonowitsch, ihr Mann, hatte es später mehrmals renoviert. Zusammen mit neun anderen Jurten, den traditionellen Häusern der Ewenken, stand es zu einem kleinen Dorf vereint, das ein paar Kilometer abseits lag von Vanavara. Nur eine einzige holperige Straße führte durch den beinahe undurchdringlichen Wald in die Stadt. Im Innern der Hütte teilten sich zwei Betten, ein Sofa und ein Kleiderschrank den einzigen großen Raum. Den gestampften Boden hatte man mit bunten Teppichen ausgelegt, welche in ähnlicher Form, aber weitaus kostbarer die Wände schmückten.
    Hier und da fegte die alte Frau mit einem Strohbesen einige Krümel hinweg, dabei schob sie ein paar große Kissen beiseite, mit denen man es sich auch noch als älterer Mensch auf dem Boden bequem machen |65| konnte. Doch setzen wollte sie sich nicht. Es war, als sei sie von einer andauernden Unruhe getrieben, und ihr gütiges rundes Gesicht mit den vielen Fältchen wirkte so sorgenvoll wie schon lange nicht mehr.
    Während ihr Enkel sich, nur mit Unterwäsche bekleidet, langsam aufrichtete und sich verschlafen die Augen rieb, betrat sein Großvater durch einen Vorhang aus Fellen das Innere der Jurte. Das ockerfarbene Lederhemd und die gleichfarbige Hose schlotterten um seine dürre Gestalt, und die bunte Mütze auf seinem Kopf bändigte nur mühsam das weiße störrische Haar. Sein Gesicht war eingefallen, die Haut von Wind und Wetter gegerbt, und seine kleinen leuchtenden Äuglein über der flachen, gebogenen Nase huschten in ständiger Aufmerksamkeit hin und her.
    »Du bist spät dran, Leonid«, bemerkte er knapp und bedachte den Jüngeren mit einem kritischen Blick. Beiläufig streichelte er dem Laika-Rüden, der sich nicht weniger verschlafen von seinem Lager erhoben hatte, den Pelz. Das Tier streckte sich wie sein Herr – genüsslich und mit einem lang gezogenen Gähnen. Anschließend schüttelte es sein frisch gereinigtes Fell.
    »Ich dachte, du wolltest die Otterfallen oben am Kimchu kontrollieren?« Der Alte sah den Jüngeren vorwurfsvoll an.
    »Tut mir leid, Dedka«, erwiderte Leonid mit einem bedauernden Lächeln, das seine aufrichtige Abbitte verriet. »Ist wohl ein bisschen spät geworden gestern Abend. Ich habe mit Taichin in uralten Büchern geblättert. Er hat mal wieder vom Krieg erzählt und von der Zeit vor der großen Revolution.«
    »Falls der verwirrte Narr auf die Idee kommen sollte, dich gegen meinen Willen zu seinem Nachfahren zu erheben, wird er sein blaues Wunder erleben. Lasst euch das gesagt sein!« Die Augen des Großvaters funkelten gefährlich.
    »Das kann sowieso nicht geschehen«, bemerkte die Großmutter seufzend, und dabei nahmen ihre wachen, hellen Augen einen schwermütigen Ausdruck an. »Warum sollte Leonid so dumm sein, sich zum Schamanen ausbilden zu lassen? Wen sollte er heilen? Er kann sich ja noch nicht einmal eine Frau nehmen, solange er sich in den Wäldern versteckt halten muss, wie ein Bär auf der Flucht vor einer blutrünstigen Hundemeute.«
    |66| »Offiziell ist er tot«, bemerkte der Alte mürrisch. »Irgendwann werden die Russen vergessen haben, dass es ihn je gab, und dann fängt er unter einem neuen Namen einfach ein neues Leben an. Kaum jemand hier kennt seine wahre Herkunft. Nur die Alten,

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