Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
und die werden schweigen.«
»Wie sollten die Russen ihn je vergessen«, erwiderte die alte Frau leise. »Dafür hat er viel zu viel gewusst. Ich sehe jetzt noch das Gesicht seines Oberen, als er uns die Nachricht von seinem Tod überbrachte. Da war keine Spur von Trauer, erst recht nicht von Mitleid. Erleichterung wäre das richtige Wort. Der Junge kann von Glück sagen, dass man an seiner Stelle einen anderen in die Grube geworfen hat.«
»Du machst dir zu viele Gedanken, Babuschka.« Leonid stand auf und zog seine Hose an. »Die Geister werden mich schützen. So wie sie es bisher immer getan haben.« Er zog sein Hemd über und setzte ein unbekümmertes Lachen auf. Dann nahm er seine Großmutter, die ihm gerade mal bis zur Brust ging, schwungvoll in die Arme und wirbelte sie herum, bis sie mit aufgesetzter Entrüstung lauthals protestierte.
Nachdem er sie wieder auf den Boden gestellt hatte, setzte er sich im Schneidersitz auf dem Sofa nieder und trank endlich seinen Tee. Schluck für Schluck, weil er immer noch heiß war. »Und warum sollte ich mich von Taichin zum Schamanen erheben lassen. Wir wissen doch beide, dass die Geister den Tod weiterer Angehöriger fordern würden. Ihr seid alles, was ich noch habe. Meinst du, das würde ich wollen?« Lächelnd zwinkerte er seiner Großmutter zu. »Außerdem ist er zu schwach in seinen Fähigkeiten. Ein großer Schamane kann seine Initiationsriten nur von einem noch größeren empfangen.«
»Versündige dich nicht vor den Geistern der Finsternis«, bemerkte der Alte tonlos. »Ich will mich nicht wiederholen. Es gibt da ein paar unselige Ahnen deines nicht weniger unseligen Vaters, die du mehr fürchten solltest als die Russen.«
Leonid biss in sein Brot, und während er langsam kaute, folgte er mit aufmerksamen Blicken seinem Großvater, der in einem offenen Kamin ein kleines Feuer entzündete und magische Worte murmelte, während er ein Bündel Kräuter in die Flammen warf. Sofort stieg ein aromatischer Duft auf, der den ganzen Raum erfüllte.
|67| Leonid zog es vor, nichts zu erwidern. Sein Großvater konnte Gedanken lesen. Taichin, der offiziell als Michail Leonardowitsch Schenkov das Licht der Welt erblickt hatte, war Leonids Großonkel. Trotz seiner achtundachtzig Jahre strotzte der hochgewachsene schlanke Mann nur so vor Vitalität. Ihm hing seit nunmehr sechzig Jahren der Ruf eines bedeutenden Schamanen an – zunächst nur heimlich. Die heiligen Männer der sibirischen Taiga hatten in Zeiten Stalins noch weit mehr unter Verfolgung zu leiden als unter dem Zaren. Doch später, nach Glasnost und Perestroika, kamen die Leute in Scharen, um sich von Taichin von den seltsamsten Krankheiten befreien zu lassen. Taichin, der zeit seines Lebens ein listiger und unerschrockener Charakter war, blühte unter seinen entfesselten überirdischen Fähigkeiten, die ihn seit jeher begleiteten, regelrecht auf. Und er wusste darum, dass in seinem Neffen gewaltige Fähigkeiten schlummerten, von denen der Junge nicht das Geringste ahnte. Fortwährend versuchte er Leonid auf die Probe zu stellen, indem er ihn in Abwesenheit des Großvaters mit all seinem schamanischen Wissen konfrontierte. Doch Leonid lag es fern, jemals Taichins Nachfolge anzutreten. Nach allem, was ihm bisher widerfahren war, konnte er sich kaum vorstellen, zwischen Menschen und Geistern zu vermitteln, geschweige denn mit letzteren über das Schicksal von Bittstellern zu verhandeln. Abgesehen davon hatte Dedka vollkommen Recht. Seine endgültige Berufung würde noch weitere Familienmitglieder das Leben kosten, und außerdem wäre seine Tarnung dahin. Nein, der alte Taichin machte seine Sache immer noch ganz gut, und wenn möglich, sollte es auch so bleiben, solange wie es eben ging.
Mit einem Seitenblick auf die Großmutter, die der gleichen Meinung war, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Taichin war ihr älterer Bruder. Leonid wollte den alten Onkel nicht vor den Kopf stoßen, indem er dessen Lehre zurückwies. Nur deshalb hatte er eingewilligt, ihm zuzuhören – unter dem heiligen Versprechen, dass seine Großeltern es niemals erfahren würden.
»Wenn es tatsächlich nach den Gesetzen der Geister ginge, müsste er auch ohne Taichins Hilfe längst zum obersten aller Schamanen aufgestiegen sein«, gab die Großmutter mit einem spöttischen Lächeln zu bedenken. »Ich kenne kaum jemanden aus unserer Sippe, dem bereits mehr Leid widerfahren ist.« Dabei schaute sie den Alten mit einer |68| verbitterten
Weitere Kostenlose Bücher