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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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junge Offizier der Ochrana war bleich geworden. Mechanisch zückte er den Bund mit den eisernen Schlüsseln, den er Tag und Nacht an seinem breiten Ledergürtel trug.
    Mit einem nervösen Zucken im Gesicht öffnete er die Kettenschlösser. Leonard sprang als Erster von dem Schlitten. Atemlos versuchte er, sich zu orientieren. Seine Sorge galt vor allem Kissanka und ihrer Familie.
    Schreie gellten durch die Dämmerung, und Schüsse krachten, nachdem auch die Kosaken aus ihrer Erstarrung erwacht waren und ihre eigenen völlig verstörten Pferde zur Räson gebracht hatten. Wild um sich schießend, stoben sie Hunden und Pferden hinterher, bis ihre Schüsse präziser wurden und das Jaulen und Bellen der getroffenen Kreaturen sich mit dem Wehklagen der verletzten Menschen vermischte.
    Leonard stürzte über den spiegelglatten Schnee zu den Verletzten hin. Pjotr und Aslan waren ihm dicht auf den Fersen. Subbota ließ auf sich warten, weil er unter all dem Gepäck die Verbandskiste suchte.
    Schon auf dem Weg zu den Trümmern konnte Leonard sehen, dass einige der Männer und Frauen wie tot im Schnee lagen. Arme und Beine weit von sich gestreckt, rührten sie sich nicht. Der leere Blick einer Frau nahm ihm den Atem. Rasch zog er seine Fellhandschuhe aus. Den Kopf seltsam verrenkt, starrte sie ihn aus leblosen blauen Augen an. Es war Kissankas Mutter. Sie hatte ihre Haube verloren, und ihr blondes langes Haar hatte sich gelöst und bedeckte den Schnee.
    Leonard kniete nieder und versuchte vergeblich, ihren Puls zu ertasten. Es kostete ihn einige Überwindung, ihr die Lider zuzudrücken. Äußerlich unverletzt hatte sie sich offenbar beim Sturz das Genick gebrochen. Nicht weit von ihr entfernt, lag ihr kleiner Sohn. Ein mächtiger Splitter aus Tannenholz steckte in seinem Oberschenkel. Leonard fasste nach seiner Hand und inspizierte die furchtbare Verletzung mit wenigen Blicken. Aussichtslos, sagte er zu sich selbst, als er die mit Blut getränkte Hose des Jungen zerriss. Der Splitter hatte offenbar eine wichtige Ader getroffen; der Junge würde verbluten, wenn er nicht auf der Stelle in ein Hospital eingeliefert werden würde. Aus großen Augen sah er Leonard an.
    »Mama?«, flüsterte er.
    |113| Leonard schluckte. »Sie kommt gleich zu dir.«
    Vorsichtig und mit zitternden Fingern schob Leonard seinen Wollschal unter den Kopf des Jungen.
    Subbota eilte keuchend heran. In der Hand hatte er eine Metallkiste mit Verbandsmaterial, Mullbinden und Kompressen. Das war genau das, was Leonard brauchte. Vielleicht konnte er doch den Kienspan entfernen. Doch was sollte dann werden? Es gab keinen Arzt, und die nächste Poststation, bei der man den Rat eines Arztes hätte einholen können, war zu weit entfernt.
    »Haben wir Äther?« Leonard sah Subbota fordernd an.
    »Sag bloß, du hast eine medizinische Ausbildung?« Die Stimme des Offiziers drückte Verwunderung aus.
    »Ich habe an der Hochschule eine Sanitätsausbildung absolviert. Das gehört dazu, wenn man physikalische Versuche unternimmt.«
    Ohne weitere Fragen zu stellen, übergab ihm der Offizier eine bräunliche Flasche mit einem Glaskorken und eine Kompresse, damit er die Flüssigkeit darauf träufeln konnte.
    Er zählte die Tropfen und rechnete insgeheim, wie viel von dem Mittel der Junge wohl würde vertragen können. Vermutlich nicht viel – er war klein und dünn.
    Mit zitternden Händen hielt er dem Jungen das streng riechende Medikament vor die Nase. Es bedurfte nur weniger Atemzüge, bis das Kind das Bewusstsein verlor. Leonard vergaß die Welt um sich herum und fühlte sich wie eine Marionette, als er dem Jungen mit einem Stilett das Bein ein Stück aufschnitt, um den Splitter sauber herausschälen zu können. Das Stück Holz war tief in das Bein des Jungen eingedrungen und hatte es beinahe durchbohrt. Ein Schwall von Blut folgte, als Leonard den Splitter mit äußerster Umsicht entfernte.
    »Jodtinktur«, sagte er zu Subbota und hielt dem Oberleutnant die blutverschmierte Hand entgegen, als ob er wie selbstverständlich dessen Assistenz erwartete. Sorgfältig desinfizierte er die Stelle, so gut es eben ging, dabei musste er sich beeilen, weil selbst das Blut in dieser Kälte gefror. Um die Wunde zu vernähen, blieb keine Zeit. Mit aller Kraft presste er die Wundränder zusammen und legte anschließend mehrere doppellagige Mullbinden darauf, bevor er das Ganze mit einem festen Verband versah.
    |114| »Mitja!« Ein entsetzter Aufschrei holte Leonard in die Wirklichkeit

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