Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
schoss es ihr durch den Kopf, wenn sie also zuvor noch nicht tot gewesen war, dann war sie es jetzt.
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Februar 1905, Sibirien – Niemandsland
Am Morgen des 14. Februar 1905 zeigte das Spiritusthermometer minus 40 Grad. Im strahlenden Sonnenschein und trotz vollständiger Windstille funkelten unzählige mikroskopisch kleine Eiskristalle in der Luft, die so kalt war, dass einem der Atem auf den Lippen gefror. Subbota und die insgesamt acht Kosaken stießen einen Fluch nach dem anderen aus, weil die Vorbereitungen nicht wie geplant vorangingen. Pferde und Narten, wie man die Schlitten hier nannte, standen längst abmarschbereit. Nur den etwa zwanzig Deportierten, die mit ihnen eine Reise ins Unbekannte antreten sollten, fehlte es noch an wärmender Zusatzkleidung.
Kissanka kauerte zusammen mit Mutter und Schwester auf einer brettharten Schneewehe. Den fieberkranken Jungen hatten sie schützend in ihre Mitte genommen. Leonard lächelte ihnen aufmunternd zu. Der alte Wassiljoff stand an einem der Pferdeschlitten und überprüfte die Ladung. Einer der Kosaken bot ihm einen Wodka an. Er lachte scheppernd, als der Alte die halbe Flasche mit einem Rutsch hinunterkippte, ohne zu wissen, was sein Gönner noch am Abend zuvor mit seiner Tochter angestellt hatte.
Leonard zog sich vor Wut und vor Hilflosigkeit der Magen zusammen. Ein Seitenblick versicherte ihm, dass Kissanka das Treiben ihres Vaters mit aufgewühlter Miene verfolgte. Wie gerne wäre er zu ihr gegangen und hätte sie beruhigt! Doch dann hätte ihr Vater wahrscheinlich ihn selbst erschlagen und nicht den Kosaken.
Auch die anderen Männer und Frauen hatten sich frierend zusammengefunden. Bereits um sechs Uhr in der Frühe hatte der Bahnhofswirt sie hinauskomplimentiert, nachdem er ihnen bei stockfinsterer Nacht nur ein spärliches Frühstück aus trockenem Brot und mehrmals geseihtem Tee gebracht hatte. Der Lagerverwalter war eine Stunde zu spät erschienen. Seine Frau hatte in der Nacht eine Totgeburt und war dabei offenbar selbst nur knapp am Leben geblieben. Dass er nunmehr nicht ganz bei der Sache war, schien verständlich, und daher gab er sich nur halbherzig der Ausgabe von Mänteln, Decken und grob geschusterten Stiefeln hin.
|109| Nach einer weiteren Stunde des Frierens und Wartens war es endlich soweit. Leonard bestieg mit Pjotr und Aslan einen der geräumigen Schlitten. In einen stinkenden Hammelfellmantel gehüllt und mit einem Schlafsack aus ähnlichem Pelz versehen, schien ihre Lage nun ein wenig erträglicher zu sein. Subbota gesellte sich zu ihnen – zwangsläufig, wie Leonid vermutete. Er besaß die Schlüssel für ihre Ketten, die er ihnen selbst auf der Fahrt nicht abnehmen wollte. Auch er schien unter dem umherwehenden Schnee zu leiden, der in Augen und Nasenlöcher eindrang und selbst die Barthaare mit einem krustigen Eispanzer überzog.
Nicht zum ersten Mal stellte sich Leonard die Frage, was der Offizier der Ochrana verbrochen haben musste, dass man ihn mit einer solchen Mission betraut hatte.
Unter lautem Gebrüll und mit singender Peitsche trieben die Jämschtschiks, die Schlittenlenker, die Pferde an.
Sie wurden mit den Tieren von Station zu Station ausgewechselt. Zwei Pferde legten sich pro Wagen ins Geschirr, manchmal auch drei. Insgesamt acht große Lastschlitten reihten sich zu einer Karawane zusammen, die sich, von schleifenden Geräuschen begleitet, in schnellem Lauf über den hart gefrorenen Schnee entlang des Jenissei nach Norden bewegte.
Von weitem konnte Leonard sehen, dass Kissanka mit ihren Eltern und Geschwistern im zweiten Schlitten saß. Eingehüllt in einen viel zu großen Mantel, war sie kaum zu erkennen. Der Kosake, der sie gestern so brutal genommen hatte, ritt schnalzend an ihr vorbei. Frech grüßte er ihren Vater, und als der Schmied ihm den Kopf zuwandte, lachte und jauchzte er so laut, dass sich nicht nur die Pferde erschraken. Natürlich dachte der Soldat nicht daran, seine Tat zu bereuen. Warum auch? Sie war nur eine Verschickte, deren Leben kaum mehr etwas wert war.
Leonard entging nicht, dass Kissanka sich zu ihm umwandte, als hätte sie seinen Blick im Rücken gespürt. Er wusste nicht, ob es mehr als Mitleid war, das er für sie empfand. Tief in seinem Innern hoffte er für sie beide, dass die Sache nicht weiterging, als sie durfte.
Am späten Nachmittag schlief Oberleutnant Subbota ein, und auch Pjotr und Aslan dösten vor sich hin. Leonard streckte von Zeit zu Zeit |110|
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